Das Landgericht Oldenburg hat in einem Beschluss vom 11. 2. 2011 einem mutigen Richter vom Amtsgericht Oldenburg verdeutlicht, dass er eine Anklageschrift auch dann dem Angeklagten zuzustellen habe, wenn er die Anklageschrift für nicht zulässig hält (LG Oldenburg, Beschluss vom 11. 2. 2011, 1 Qs 30/11).

Folgendes hatte sich zugetragen:

„Am 15. 7. 2010 erhob die Staatsanwaltschaft vor dem AG Oldenburg Anklage gegen den Angeschuldigten mit dem Vorwurf, am 3. 5. 2010 vor dem Landgericht Oldenburg als Zeuge falsch ausgesagt zu haben. (…) Mit Verfügung vom 12. 10. 2010 gab das AG das Verfahren an die Staatsanwaltschaft zurück mit dem Hinweis, dass die Anklageschrift in der vorliegenden Form nicht zulässig sein dürfte. Unter dem 28. 10. 2010 nahm die Staatsanwaltschaft die Anklage zurück.

Am 15. 11. 2010 erhob die Staatsanwaltschaft erneut Anklage. Mit Beschluss vom 20. 12. 2010 lehnte das AG die Mitteilung der Anklageschrift an den Angeschuldigten ab. Gegen diesen am 27. 12. 2010 zugestellten Beschluss legte die Staatsanwaltschaft am 10. 1. 2011 „sofortige Beschwerde” ein“ (LG Oldenburg, Beschluss vom 11. 2. 2011, 1 Qs 30/11).

Sofortige Beschwerde hätte die Staatsanwaltschaft Oldenburg nicht einlegen müssen. Die einfache hätte gereicht. An eine Frist war das Rechtsmittel nicht gebunden. Dennoch hatte das Rechtsmittel Erfolg. Dies begründet das Landgericht Oldenburg wie folgt:
Aus den Gründen:

„Gemäß § 201 Absatz I StPO teilt der Vorsitzende des Gerichts die Anklageschrift dem Angeschuldigten mit und fordert ihn zugleich auf, innerhalb einer zu bestimmenden Frist zu erklären, ob er die Vornahme einzelner Beweiserhebungen vor Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens beantragen wolle.

Die Mitteilung der Anklageschrift an den Angeschuldigten ist zwingend. Sie ist auch dann geboten, wenn die Anklageschrift den Anforderungen des § 200 StPO nicht genügt. Selbst bei schwerwiegenden Mängeln kann der Vorsitzende nicht von der Mitteilung der Anklageschrift absehen (…).

Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 201 Absatz I StPO. Danach „teilt” der Vorsitzende des Gerichts dem Angeschuldigten die Anklageschrift mit. Die Vorschrift sieht insofern keine Ausnahmen vor. Sie räumt dem Vorsitzenden nicht das Recht ein, nach einer Vorprüfung der Anklageschrift über eine Mitteilung zu entscheiden. Dies gilt auch dann, wenn der Vorsitzende der Annahme ist, dass das Hauptverfahren nicht zu eröffnen sei (…).

Das Gericht hat im Zwischenverfahren darüber zu entscheiden, ob das Hauptverfahren zu eröffnen ist. In diesem Rahmen hat es zu prüfen, ob das Verfahren auf Grund der von der Staatsanwaltschaft erhobenen Anklage durchzuführen ist. Es kann die Eröffnung des Hauptverfahrens gem. § 204 Absatz I StPO ablehnen, wenn rechtliche oder tatsächliche Hinderungsgründe vorliegen. Eine zusätzliche Prüfungskompetenz des Gerichts dahingehend, ob die Anklageschrift gem. § 201 Absatz I StPO mitzuteilen ist, sieht die Gesetzessystematik dagegen nicht vor.

Auch aus dem Zweck des § 201 Absatz I StPO ergibt sich, dass die Mitteilung der Anklageschrift stets erforderlich ist. Bei der Vorschrift handelt es sich um eine spezielle Ausprägung des § 33 Absatz I StPO, nach dem eine Entscheidung des Gerichts erst nach Anhörung der Beteiligten ergeht. § 201 Absatz I StPO dient der Gewährung rechtlichen Gehörs und sichert das in Artikel 6 Absatz III EMRK niedergelegte Recht auf ein faires Verfahren ab. Aus diesen Prozessmaximen folgt zwingend, dass ein Angeschuldigter über eine Anklageerhebung nicht in Unkenntnis gelassen werden darf. Er hat das Recht zu erfahren, welche Taten die StA ihm vorwirft (…).

Die Argumente, die gegen eine zwingende Mitteilungspflicht des Vorsitzenden vorgebracht werden, überzeugen die Kammer nicht. Insbesondere verzögert sich das Verfahren nicht dadurch, dass dem Angeschuldigten die Anklageschrift mitzuteilen ist (…). In Fällen, in denen das Hauptverfahren nicht eröffnet werden soll, steht es dem Gericht – wenn es nach den Umständen dienlich erscheint – frei, unter Absehen von der in § 201 Absatz I StPO vorgesehenen Erklärungsfrist dem Angeschuldigten die Anklageschrift zugleich mit dem Nichteröffnungsbeschluss zuzusenden (…). So können zeitraubende und Kosten verursachende Aktivitäten seitens der Verteidigung vermieden werden. Zudem erfährt der Angeschuldigte bei einer sofortigen Beschwerde der StA nicht erst im Beschwerdeverfahren von dem ihm zur Last gelegten Tatvorwurf“ (LG Oldenburg, Beschluss vom 11. 2. 2011, 1 Qs 30/11).

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