Eine Revision des Angeklagten gegen ein Urteil des Landgerichts Wuppertal drang nicht durch. Der Verteidiger hatte gerügt, dass eine zwei Seiten umfassende Tabelle im Selbstleseverfahren nach § 249 I StPO in das Verfahren eingeführt wurde, obwohl der Angeklagte leseunkundig gewesen sei.

Folgender Sachverhalt lag zu Grunde:

„Der Angeklagte war faktischer Geschäftsführer einer nominell von seiner früheren Ehefrau geführten Firma, die im Zusammenhang mit dem Handel mit gebrauchten Baumaschinen und Lastkraftwagen in ein näher beschriebenes, über Jahre bundesweit praktiziertes Steuerhinterziehungssystem einbezogen war. Insgesamt wurde allein Umsatzsteuer – ebenfalls hinterzogene Einkommen- und Gewerbesteuer sind nicht mehr Verfahrensgegenstand – i.H.v. mehr als 1,5 Mio. € sowohl durch die Verschleierung von Umsätzen als auch durch unberechtigten Vorsteuerabzug auf der Grundlage fingierter Rechnungen hinterzogen. Auf dieser Grundlage wurde der Angeklagte wegen Steuerhinterziehung in 18 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt“ (BGH, Beschluss vom 14. 12. 2010 – 1 StR 422/10 (LG Wuppertal)).

Der Verfahrensrüge ging folgender Sachverhalt voraus:

„Auf Anordnung des Vorsitzenden wurde ein Selbstleseverfahren durchgeführt, das sich auf eine 2 Seiten umfassende Tabelle bezog, die von der Überschrift: „Vorsteuerbeträge aus Rechnungseingängen der Firmen G-GmbH + T-GmbH/2000 bis 2004” abgesehen, weitgehend aus Zahlen besteht.

Hieran knüpft die Revision an.

Der aus Syrien stammende Angeklagte verfügt ausweislich der Urteilsgründe „über keine Schulbildung, kann nicht Lesen und Schreiben”. Ergänzend heißt es an anderer Stelle der Urteilsgründe, nach Angaben der früheren Ehefrau könne er „nur ein paar Worte und im Übrigen nur Zahlen lesen”. Ergänzend trägt die Revision näher vor, dass und warum die (mit dem die Revision begründenden Verteidiger nicht identische) Verteidigerin im damaligen Hauptverhandlungstermin der Auffassung war, nähere Erläuterungen gegenüber dem Angeklagten zu diesem Selbstleseverfahren seien nicht erforderlich. Insgesamt, so die Revision, komme „ein Selbstleseverfahren mit einem leseunkundigen Angeklagten … nicht in Betracht”. Nachdem der Generalbundesanwalt die Zulässigkeit der Rüge bezweifelt hat, weil ein Widerspruch gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens gemäß § 249 Absatz II 2 StPO nicht erhoben worden sei, hat die Revision erwidert (§ 349 Absatz III 2 StPO), nicht die Anordnung des Selbstleseverfahrens sei fehlerhaft gewesen, sondern dessen Durchführung“ (BGH, Beschluss vom 14. 12. 2010 – 1 StR 422/10 (LG Wuppertal)).

Der Revision blieb der Erfolg verwehrt. Seine Entscheidung begründet der BGH so:

„Der Vorsitzende bestimmt nach pflichtgemäßem Ermessen, ob ein Selbstleseverfahren durchzuführen ist (…). Dabei sind auch – hier, wie die Revision zutreffend vorträgt, schon im Ermittlungsverfahren aktenkundig gewordene – Anhaltspunkte für Analphabetismus in die Erwägungen einzubeziehen (…). Einen Rechtssatz, dass in derartigen – nach forensischer Erfahrung nicht häufigen – Fällen ein Selbstleseverfahren keinesfalls zulässig sei, gibt es nicht. Wird ein solches – hier 2 Aktenseiten betreffendes – Verfahren für zweckmäßig gehalten, so ist die Situation damit vergleichbar, dass der Angeklagte Urkunden zwar lesen, aber mangels Sprachkenntnissen nicht verstehen kann. Auch dann ist ein Selbstleseverfahren möglich, jedoch muss das Gericht ermöglichen, dass ihm der Inhalt der Urkunde zur Kenntnis gebracht wird (…). Jedoch kann, von den hier nicht in Rede stehenden Richtern abgesehen, jeder Verfahrensbeteiligte, also auch der Angeklagte, auch darauf verzichten, vom Inhalt der Urkunden Kenntnis zu nehmen (…). Verzichtet er nicht, kann der Inhalt gegebenenfalls durch einen hierzu bereiten Verteidiger zur Kenntnis gebracht werden, sonst auf andere Weise. Es ist dem Strafprozessrecht auch sonst nicht fremd, dass erforderlichenfalls Urkunden vorgelesen werden (…).

Weder auf (etwaige) Fehler bei der Anordnung, noch bei der Durchführung des Selbstleseverfahrens kann mit Erfolg eine Verfahrensrüge gestützt werden, wenn zuvor kein Gerichtsbeschluss herbeigeführt wurde. Hinsichtlich der Anordnung ist eine Entscheidung des gesamten Spruchkörpers gemäß § 249 Absatz II 2 StPO herbeizuführen, bei der das Ermessen des Spruchkörpers an die Stelle des Ermessens des Vorsitzenden tritt (…). Geht es nicht um die Anordnung, sondern die ebenfalls zunächst vom Vorsitzenden zu bestimmende Art der Durchführung des Selbstleseverfahrens (…), ist eine Entscheidung gemäß § 238 Absatz II StPO herbeizuführen, wobei dann nur die Rechtmäßigkeit, nicht aber die Zweckmäßigkeit der beanstandeten Maßnahme zu überprüfen ist (…). Hier ist weder das eine noch das andere geschehen. Daher ist für eine Verfahrensrüge im Zusammenhang mit dem Selbstleseverfahren kein Raum (…]). Soweit keine Entscheidung gemäß § 238 Absatz II StPO herbeigeführt wurde, ist ergänzend auf folgendes hinzuweisen: Der BGH hat offen gelassen, ob eine Rüge auch dann daran scheitert, dass keine Entscheidung gemäß § 238 Absatz II StPO herbeigeführt wurde, wenn die behauptete Rechtsverletzung durch den Vorsitzenden nicht mehr mit der Einhaltung „der unumstößlichen, eindeutigen Grenzen zulässiger Verfahrensgestaltung” vereinbar wäre (…). Der Senat braucht dieser Frage hier ebenfalls nicht näher nachzugehen, da es hier um die Wahrung eines Rechts geht, auf das der Angeklagte, wie dargelegt, nach seinem Belieben verzichten kann, ohne dass mit einem solchen Verzicht Prozessrecht verletzt wäre. Wird die Verletzung eines derartigen Rechts gerügt, bleibt es bei dem Grundsatz, dass eine solche Rüge nur Erfolg haben kann, wenn eine Entscheidung gemäß § 238 Absatz II StPO herbeigeführt wurde (BGH, Beschluss vom 14. 12. 2010 – 1 StR 422/10 (LG Wuppertal)).

Ein weiterer Beleg dafür, dass der Bundesgerichtshof an den Verteidiger absurde Anforderungen stellt, will er im Revisionsverfahren mit einer Verfahrensrüge durchdringen. Der BGH lässt ausdrücklich weiter offen, ob der Zwischenrechtsbehelf gemäß § 238 II StPO selbst dann notwendig ist, wenn die behauptete Rechtsverletzung durch den Vorsitzenden nicht mehr mit der Einhaltung „der unumstößlichen, eindeutigen Grenzen zulässiger Verfahrensgestaltung” vereinbar wäre. Dem Verteidiger in der Hauptverhandlung wird damit weiter die Rolle des Schiedsrichters über die (prozess-) ordnungsgemäße Leitung der Gerichtsverhandlung des Richters zugeschrieben. Bei einem Foul muss der Verteidiger pfeifen und die gelbe Karte zeigen, indem er das Gericht anruft. Ansonsten läuft der Angeklagte Gefahr, sich seiner prozessualen Rechte zu begeben. Sei der Verstoß hiergegen noch so schwer.

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