Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich auf eine Revision des Angeklagten gegen ein Urteil des Landgerichts Paderborn dazu geäußert, wie das Tatbestandsmerkmal „sexuelle Handlung vor einem Kind“ i.S.d. § 176 IV Nr. 1 StGB verstanden werden muss. Gemäß § 176 IV Nr. 1 StGB wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft, wer sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt.

Der BGH vertritt die Auffassung, dass für das Tatbestandsmerkmal erforderlich sei,  dass der Täter den anderen in der Weise in das sexuelle Geschehen einbezieht, dass für ihn gerade die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Tatopfer von Bedeutung ist (BGH, Urteil vom 12. 5. 2011 – 4 StR 699/10 (LG Paderborn)).

Folgender Sachverhalt liegt dem Beschluss zu Grunde:

„Nach den Feststellungen begab sich der Angeklagte im April 2010 mehrfach morgens gegen 7.30 Uhr zu einer Parkbank, nahm dort Platz, holte sein Geschlechtsteil aus der Hose, verdeckte es zunächst mit seinen Händen und wartete ab, ob sich Frauen näherten, vor denen er zu onanieren beabsichtigte. In 6 Fällen nutzte der Angeklagte jeweils die Gelegenheit, dass ein Linienbus in einem Abstand von ca. 10 m an der Parkbank vorbeifuhr, dazu aus, um gezielt vor den Insassen des Busses zu onanieren. Dabei war ihm bewusst, dass der Bus zu den Tatzeiten hauptsächlich von Schülern benutzt wurde und dass auch unter 14 Jahre alte Kinder seine Handlungen aus dem Bus heraus wahrnehmen konnten. Er nahm es zumindest billigend in Kauf, auch von diesen gesehen zu werden. Tatsächlich wurde der Angeklagte in 5 Fällen von einem 16-jährigen Mädchen beobachtet, als er gezielt in dem Moment, in dem der Bus die Parkbank passierte, sein Geschlechtsteil entblößte und daran manipulierte. In einem weiteren Fall sahen zwei 11-jährige Mädchen aus dem Bus heraus, wie der Angeklagte seinen Penis in die Hand nahm und onanierte. Alle 3 Mädchen fühlten sich durch das Handeln des Angeklagten jeweils abgestoßen und unangenehm berührt.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 2 tateinheitlichen Fällen sowie wegen exhibitionistischer Handlungen in 5 Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten“ (s.h. insgesamt: BGH, Urteil vom 12. 5. 2011 – 4 StR 699/10 (LG Paderborn)).

Das Rechtsmittel führte zu einer Änderung des Schuldspruchs und hatte hinsichtlich des Strafausspruchs insoweit Erfolg, als das Landgericht dem Angeklagten die Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung versagt hat. Im Übrigen war es unbegründet.

Seine Entscheidung begründet der BGH wie folgt:

„Wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Absatz IV Nr. 1 StGB macht sich strafbar, wer sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt. Nach der Legaldefinition des § 184g Nr. 2 StGB sind Handlungen vor einem anderen nur solche, die vor einem anderen vorgenommen werden, der den Vorgang wahrnimmt. Seit der Neufassung der Vorschrift durch das 6. Gesetz zur Reform des Strafrechts (6. StrRG) vom 26. 1. 1998 (BGBl I, 164) setzt der Tatbestand des § 176 Absatz IV Nr. 1 StGB (….) nicht mehr voraus, dass der Täter in der Absicht handelt, sich, das Kind oder einen anderen sexuell zu erregen. Um eine vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte unangemessene Ausdehnung der Strafbarkeit wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Vornahme sexueller Handlungen vor einem Kind infolge des Wegfalls des den subjektiven Tatbestand bislang einschränkenden Merkmals der Erregungsabsicht zu vermeiden, hat der Senat die Begriffsbestimmung in § 184g Nr. 2 StGB (§ 184f Nr. 2 StGB a.F.) insoweit einengend ausgelegt, als für die Annahme einer sexuellen Handlung vor einem anderen – über deren Wahrnehmung durch das Tatopfer hinaus – erforderlich ist, dass der Täter den anderen in der Weise in das sexuelle Geschehen einbezieht, dass für ihn gerade die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Tatopfer von Bedeutung ist (…). Nach dieser einschränkenden Auslegung, an welcher der Senat festhält, muss die Wahrnehmung durch den anderen, nicht aber dessen Alter für den Täter handlungsbestimmend gewesen sein. Kommt es dem Täter darauf an, dass das Tatopfer die sexuelle Handlung wahrnimmt, so reicht für die Erfüllung des Tatbestands des § 176 Absatz IV Nr. 1 StGB in subjektiver Hinsicht aus, dass er billigend in Kauf nimmt, dass das Tatopfer das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Denn hinsichtlich des Alters des Kindes genügt bei § 176 Absatz IV Nr. 1 StGB – ebenso wie bei § 176 Absatz I StGB (…) – bedingter Vorsatz (…).

Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils liegen bei der Tat zum Nachteil der zwei 11-jährigen Mädchen die tatbestandlichen Voraussetzungen  § 176 Absatz IV Nr. 1 StGB vor. Die beiden Tatopfer nahmen die Manipulation des Angeklagten an seinem entblößten Glied aus dem Bus heraus wahr. Der Angeklagte nutzte das Vorbeifahren des Linienbusses aus, um gezielt vor den Insassen des Busses zu onanieren. Ihm kam es bei seiner Handlung darauf an, die in dem Bus befindlichen Personen in das sexuelle Geschehen mit einzubeziehen. Diese sollten die sexuellen Handlungen wahrnehmen, wobei er billigend in Kauf nahm, auch von Personen unter 14 Jahren gesehen zu werden.

Hinsichtlich der Taten zum Nachteil des 16-jährigen Mädchens belegen die getroffenen tatsächlichen Feststellungen, dass sich der Angeklagte wegen exhibitionistischer Handlungen gemäß § 183 Absatz I StGB strafbar gemacht hat. Tateinheitlich hierzu hat er jeweils einen versuchten sexuellen Missbrauch von Kindern gemäß § 176 Absatz IV Nr. 1, § 176 Absatz VI StGB begangen. Auch in diesen Fällen kam es dem Angeklagten darauf an, dass die in dem vorbeifahrenden Bus befindlichen Personen die Manipulationen an seinem entblößten Glied wahrnahmen, wobei er damit rechnete, dass sich unter den Insassen auch Kinder befanden, und billigend in Kauf nahm, von diesen ebenfalls gesehen zu werden. Mit der Vornahme der sexuellen Handlungen setzte der Angeklagte nach seinen Vorstellungen somit jeweils unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestands des § 176 Absatz IV Nr. 1 StGB an. Zu einer Tatvollendung kam es in diesen Fällen nicht, weil Kinder das sexuelle Geschehen nicht wahrnahmen“ (s.h. insgesamt: BGH, Urteil vom 12. 5. 2011 – 4 StR 699/10 (LG Paderborn)).