Zu der Frage, ab welcher Blutalkoholkonzentration (BAK) sich der Tatrichter eingehend mit der Frage der alkoholbedingt verminderten Steuerungsfähigkeit auseinanderzusetzen hat, musste der BGH erneut Stellung nehmen. Das Landgericht Dresden verurteilte den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung eines weiteren Urteils zu einer Einheitsjugendstrafe von 5 Jahren und 2 Monaten. Seine hiergegen gerichtete Revision hatte Erfolg, weil das Landgericht die Beweisanzeichen, die für eine verminderte Steuerungsfähigkeit sprachen, falsch bewertete.

„Nach den Feststellungen war der Tat vom 13. 12. 2010 ein Trinkgelage im Innenhof der Altmarktgalerie in der Dresdner Innenstadt vorausgegangen, an dem neben dem Angeklagten 3 weitere junge Leute teilnahmen und das sich über mehr als 5 Stunden erstreckte. Bereits zuvor hatte der Angeklagte Alkohol konsumiert. Ausgehend von den Trinkmengenangaben des Angeklagten in der Hauptverhandlung gelangt sie durch Rückrechnung zu einer maximalen BAK zur Tatzeit beim Angekl. von „2,07‰ bzw. 2,44‰”, mithin Werten, bei denen „grundsätzlich eine alkoholbedingte Verminderung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zu diskutieren” sei. Im Anschluss an das Sachverständigengutachten findet die Jugendkammer indes im Tatgeschehen keinerlei Anhaltspunkte für eine erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit des Angeklagten: „Durch keinen der Zeugen seien körperliche und neurologische Ausfallerscheinungen des Angeklagten berichtet worden. Der Angeklagte selbst könne sich genau erinnern. Das Tatgeschehen wie auch das Nachtatgeschehen zeigten keinerlei Ausfallerscheinungen”. Vielmehr sei der Angeklagten „offensichtlich zielgerichtet und absichtsvoll vorgegangen”“ BGH, Beschluss vom 7. 2. 2012 – 5 StR 545/11 (LG Dresden)).

Diese Begrünung zur Ablehnung der eingeschränkten Schuldfähigkeit aufgrund voll erhaltener Steuerungsfähigkeit hielt revisionsrechtlicher Kontrolle aus den folgenden nicht stand:

„Eine BAK von maximal 2,44‰ legt die Annahme einer erheblichen Herabsetzung der Hemmungsfähigkeit nahe, die nach st. Rspr. des BGH für eine Tat wie die vorliegende ab einer BAK von 2,2‰ in Betracht zu ziehen ist (…). Auch wenn davon auszugehen ist, dass es keinen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz darüber gibt, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten BAK zur Tatzeit in aller Regel vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss, ist der festgestellte Wert ein gewichtiges Beweisanzeichen für die Stärke der alkoholischen Beeinflussung.

Zwar ist grundsätzlich der eingeschränkte Beweiswert auf Grund von Trinkmengenangaben errechneter Blutalkoholwerte zu beachten. Die Bewertung der Jugendkammer, der Angeklaggte habe seinen eigenen Alkoholkonsum in der Hauptverhandlung überhöht dargestellt, vermag der vom Sachverständigen berechneten und vom LG übernommenen BAK nicht die Bedeutung i.S. einer Feststellung zu nehmen. Solange nämlich nicht auf der Grundlage einer schlüssigen Beweiswürdigung, die hier indes fehlt, ein geringerer Alkoholkonsum festgestellt wird, gebietet es der Zweifelssatz, den von der Jugendkammer errechneten Maximalwert mit der sich daraus ergebenden Indizwirkung der Beurteilung der Schuldfähigkeit zugrunde zu legen, wenn keine gegenteiligen Beweisanzeichen vorhanden sind (…).

Als in diesem Sinne kontraindikatorische psychodiagnostische Beurteilungskriterien kommen dabei nur solche Umstände in Betracht, die Hinweise darauf geben können, ob das Steuerungsvermögen des Täters trotz der erheblichen Alkoholisierung voll erhalten geblieben ist (…). Den vom Landgreicht herangezogenen Umständen kommt eine solche Bedeutung nicht zu. Das Verhalten des Angeklagten bei der Tatbegehung weist keine Merkmale auf, die aussagekräftige Rückschlüsse auf die Steuerungsfähigkeit zulassen. Vielmehr zeigt das Tatbild im Gegenteil Besonderheiten, die auf eine alkoholbedingte erhebliche Herabsetzung der Hemmungsfähigkeit des Angeklagten schließen lassen können (spontane, rasche Verfolgung des nach einer geringfügigen, bereits beruhigten Auseinandersetzung weggehenden Geschädigten; wuchtiger Stich mit einem „Wehrmachtsehrendolch” in seinen Oberbauch) und die von der Jugendkammer in diesem Zusammenhang nicht behandelt werden. Unerörtert bleibt auch der Umstand, dass die Gruppe um den Angeklagten auf ihrem Heimweg „laut grölend und ‚Dynamo-Sprüche’ brüllend” durch die Dresdner Innenstadt zog. Das Verhalten des Angekl. nach der Tat (Flucht mit der Straßenbahn, Entsorgung des Dolchs im Schnee) hat nur geringe Aussagekraft, zumal durch die Tat eine wesentliche Ernüchterung eingetreten sein kann. Sein angeblich genaues Erinnerungsvermögen ist angesichts seiner dreimal abgewandelten Einlassung zum Tatablauf, die das Landgericht jeweils – in nachvollziehbarer Weise – für nicht glaubhaft hält, kein wesentliches Kriterium. Dass der Angeklagte den Zeugen nicht durch Torkeln oder Lallen oder ähnliche Ausfallerscheinungen aufgefallen ist, genügt alleine nicht, eine erhebliche Verminderung seines Steuerungsvermögens auszuschließen“ (BGH, Beschluss vom 7. 2. 2012 – 5 StR 545/11 (LG Dresden)).

Es bedurfte deshalb erneuter Überprüfung, „ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei der Tat infolge seiner Alkoholisierung erheblich vermindert war oder dies zumindest nicht auszuschließen ist (BGH, Beschluss vom 7. 2. 2012 – 5 StR 545/11 (LG Dresden)).