Der Bundesgerichtshof hat in einem Beschluss vom 10.06.2010 an den Grundsatz der Unmittelbarkeit erinnert, der nur nach Einhaltung besonderer formaler Vorgaben eingeschränkt werden darf. Wird die Vorgabe (Gerichtsbeschluss) nicht beachtet, beruht das Urteil grundsätzlich auf dem festgestellten Rechtsfehler (BGH, Beschluss vom 10. 6. 2010 – 2 StR 78/10 (LG Fulda)).

Folgendes hatte sich zugetragen:

„Der Angeklagte war im Juni 2008 als Angestellter eines Pflegedienstes u.a. mit der ambulanten Pflege des nach einem Unfall vom Hals ab querschnittsgelähmten Geschädigten betraut. In der Nacht vom 11. 6. auf den 12. 6. 2008 war er zwischen 22 Uhr und 5.45 Uhr alleine für die Betreuung des Geschädigten verantwortlich.

Dieser wachte am Morgen des 12. 6. 2008 gegen 4 Uhr auf und konnte nicht mehr einschlafen. Er verwickelte den Angeklagten in ein Gespräch und fragte ihn ständig nach Tag und Zeit. Hierdurch war der Angeklagte schließlich derart genervt, dass er sich dazu entschloss, den Geschädigten ruhig zu stellen. Zu diesem Zwecke verabreichte der Angeklagte dem Geschädigten am 12. 6. 2008 in dessen Zimmer zwischen 4.30 Uhr und 5.40 Uhr heimlich entweder oral mittels eines Bechers vermischt mit einem Getränk oder mittels des Zugangs über die PEG-Sonde ca. 138-240 mg des Wirkstoffs Diazepam, der sich in flüssiger Form in dem Arzneimittel „Valiquid 0,3” befand, das der Angeklagte in dem im Patientenzimmer befindlichen Arzneimittelschrank vorgefunden hatte. Der Angeklagte wusste, dass es sich hierbei um eine Dosierung handelte, welche die ärztlicherseits für überraschend auftretende Muskelkrämpfe verordnete Menge von 10 mg Diazepam erheblich überschritt. Um die Entnahme des Medikaments zu verschleiern, füllte der Angeklagte das Fläschchen mit einer Flüssigkeit – vermutlich Wasser – wieder auf und stellte es in den Arzneimittelschrank zurück. Entgegen dem Plan des Angeklagten begann das Medikament erst kurz nach 6 Uhr zu wirken, als der Angeklagte den Nachtdienst bereits beendet und das Anwesen verlassen hatte. Der Geschädigte schlief gegen 6.10 Uhr ein und war während der nächsten Stunden nicht ansprechbar. Erst zwischen 16.30 Uhr und 17.30 Uhr am späten Nachmittag gelang es, ihn kurzzeitig durch Rütteln aufzuwecken, ehe er wieder einschlief. In den darauf folgenden Tagen war er noch phasenweise schläfrig und benommen und hatte Schwierigkeiten mit dem Sprechen. Erst ab dem 15. 6. 2008 befand er sich wieder in seinem sonst gewöhnlichen Gesundheitszustand“ (BGH, Beschluss vom 10. 6. 2010 – 2 StR 78/10 (LG Fulda)).

Das Landgericht Fulda verurteilte den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten. Die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Die Revision rügte einen Verstoß gegen § 251 Absatz IV Nr. 1 StPO.

Diesbezüglich trug sich folgendes zu:

„Das Landgericht hat im Hauptverhandlungstermin vom 20. 10. 2009 auf Anordnung des Vorsitzenden 2 Vermerke des Zeugen KHK H „im allseitigen Einvernehmen” verlesen, ohne hierüber einen Gerichtsbeschluss herbeizuführen (BGH, Beschluss vom 10. 6. 2010 – 2 StR 78/10).

Dies war fehlerhaft: „Die Verlesung der Vermerke im Urkundsbeweis kam hier alleine im Wege eines Gerichtsbeschlusses nach der Vorschrift des § 251 Absatz I Nr. 1 StPO in Betracht, da sie formlose Befragungen des Geschädigten und damit „Vernehmungen” zum Gegenstand hatten, welche nicht im erweiterten Urkundsbeweis nach § 256 Absatz I Nr. 5 StPO verlesen werden dürfen. Das Fehlen des Gerichtsbeschlusses begründet die Revision (…).

Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts kann der Senat nicht ausschließen, dass das Urteil auf dem festgestellten Rechtsfehler beruht. Zwar ist es zutreffend, dass das Beruhen nach der Rechtsprechung entfallen kann, wenn den Verfahrensbeteiligten der Grund der Verlesung bewusst war und die persönliche Vernehmung des Zeugen zur weiteren Aufklärung nicht hätte beitragen können (…). Ein solcher Ausschluss des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Verletzung des Gesetzes und dem Urteil kann jedoch mit Rücksicht auf Sinn und Zweck des Beschlusserfordernisses nur in Ausnahmefällen angenommen werden. Die in § 251 Absatz IV 1 StPO verlangte Entscheidung durch den gesamten Spruchkörper dient nicht nur der Unterrichtung der Verfahrensbeteiligten über den Grund der Verlesung. Sie beruht vor allem auch darauf, dass die Ersetzung der Vernehmung eines Zeugen durch die Verlesung einer Niederschrift den Grundsatz der Unmittelbarkeit einschränkt, der zur Qualitätssicherung der Beweisaufnahme eine direkte und unvermittelte Wahrnehmung der Gerichtspersonen in der Hauptverhandlung gewährleisten soll. Das Beschlusserfordernis in § 251 Absatz IV 1 StPO soll angesichts der potentiellen Bedeutung der Verlesung für die Zuverlässigkeit der Beweisgewinnung und Rekonstruktion des Tatgeschehens auch gewährleisten, dass das Gericht durch eine gemeinsame Meinungsbildung sowie in seiner Gesamtheit die Verantwortung dafür trägt, ob ausnahmsweise die Einschränkung der Unmittelbarkeit durch den Verzicht auf den Zeugen hinnehmbar ist oder die Aufklärungspflicht die Vernehmung der Beweisperson gebietet.

Der Senat kann hier nicht ausschließen, dass die persönliche Vernehmung des Zeugen H eine weitergehende Aufklärung des Falles ermöglicht hätte als die erfolgte Verlesung der Vermerke. Insoweit ist es ohne Belang, dass auf die Vernehmung des Zeugen KHK H sowie auf die Verlesung der Vermerke in der Hauptverhandlung im allseitigen Einverständnis verzichtet wurde. Das Einverständnis von Staatsanwalt, Verteidiger und Angekl. nach § 251 Absatz I Nr. 1 StPO ist lediglich Voraussetzung für die Entscheidung gemäß § 251 Absatz IV 1 StPO, ersetzt aber nicht die nach dieser Vorschrift einzuhaltenden formellen Voraussetzungen, deren es ansonsten nicht bedürfte. Dem entspricht es, dass die Einhaltung der Förmlichkeiten in § 251 Absatz IV StPO, insbesondere die förmliche Selbstkontrolle des Gerichts durch Entscheidung des gesamten Spruchkörpers, nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten steht (…) (BGH, Beschluss vom 10. 6. 2010 – 2 StR 78/10).