Ein Strafrichter ist eskaliert und wird hierfür wohl seinerseits bestraft. Eine Seltenheit. Bei derart eindeutigen Tatsachen unumgänglich. Wenn das Verhalten des Strafrichters nicht als Rechtsbeugung bestraft wird, haben Richter tatsächlich freie Hand. Dies wäre das falsche Signal. Dieser Meinung ist offenbar auch der zweite Senat des Bundesgerichtshofs.
Folgender – eigentlich unglaublicher – Sachverhalt:
„Der Angeklagte (hier also der Strafrichter) wurde zum 2. 3. 2009 als Richter auf Probe beim AG E eingestellt und dort als Strafrichter verwendet. 1 Woche später ging beim AG hinsichtlich eines vom Vorgänger des Angeklagten erlassenen Strafbefehls über 40 Tagessätze zu je 10 € wegen Exhibitionismus der Einspruch des Beschuldigten D ein. Dieses Schreiben war mehrdeutig, was den Umfang des eingelegten Einspruchs anbelangt. Der Angeklagte teilte dem Beschuldigten D daraufhin mit, er sehe in dessen Schreiben lediglich einen Einspruch gegen die Strafhöhe, so dass nur hierüber zu verhandeln sei. Gleichzeitig teilte er ihm mit, dass sich ein Gutachter an ihn wenden würde, mit dem er zusammenarbeiten müsse. Hintergrund war ein Auftrag des Angeklagten an einen Sachverständigen zur Prüfung, ob bei dem Beschuldigten, der in der Vergangenheit einschlägig auffällig geworden war, die Voraussetzungen nach § 21 bzw. § 63 StGB vorlägen.
Am 25. 6. 2009 ging das Gutachten ein, das zu dem Ergebnis kam, bei dem Beschuldigten D, der behandlungsbedürftig sei, lägen angesichts einer sexuellen Präferenzstörung die Voraussetzungen einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB vor. Der Angeklagte regte nunmehr bei der StA – auch um die nicht unerheblichen Kosten für das erstattete Gutachten von dem Beschuldigten fernzuhalten – die Einstellung des Verfahrens nach § 153a StPO an, was diese allerdings ablehnte. Daraufhin bestimmte er Termin zur Hauptverhandlung auf den 28. 8. 2009, wobei er hierzu den Sachverständigen lud. Die ursprünglich vorgesehene Zeugenladung strich der Angeklagte aufgrund des seiner Ansicht nach nur beschränkten Strafbefehlseinspruchs noch beim Ausfüllen der Ladungsverfügung wieder.
Einen Tag vor dem Hauptverhandlungstermin lud der Angeklagte den Sachverständigen im Einvernehmen mit dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft wieder ab, da aus seiner Sicht der Vorwurf hinreichend geklärt sei und weitere Kosten vermieden werden sollten. Bei einem Telefonat mit dem Staatsanwalt teilte er diesem weiter mit, angesichts der schon entstandenen Kosten sei eine Geldstrafe wenig sinnvoll, in erster Linie komme eine Verwarnung mit Strafvorbehalt unter einer Therapieauflage für den Angeklagten D in Betracht. Dazu war er nach weiterer Terminsvorbereitung entschlossen.
In der Hauptverhandlung am 28. 8. 2009 verlas Staatsanwalt B den Strafbefehl. Anschließend stellte der Angeklagte fest, dass D rechtzeitig Einspruch eingelegt habe. Über die Reichweite des Einspruchs wurde nicht gesprochen. Der Angeklagte belehrte D, dass es ihm freistehe, sich zu den Vorwürfen zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen, woraufhin dieser Angaben machte und dabei bei seiner bisherigen Einlassung blieb, nicht vorsätzlich gehandelt zu haben. Staatsanwalt B, der in Unkenntnis des Einspruchsschreibens von einem unbeschränkten Einspruch ausging, glaubte ihm dies nicht und forderte ihn auf, ein ehrliches Geständnis, das sich strafmildernd auswirke, abzulegen. Nach kurzer Unterbrechung der Hauptverhandlung wurde das eingeholte Gutachten auszugsweise verlesen und erläutert. D blieb bei seiner bestreitenden Einlassung, worauf der Angeklagte ihn immer intensiver befragte und bohrende Fragen auch über den angeklagten Sachverhalt hinaus stellte. Bei einer angespannten Stimmung im Saal wurde D immer unsicherer und ängstlicher, blieb aber gleichwohl bei seiner Darstellung. Der Angeklagte versuchte mit wechselndem Auftreten und wechselnder Stimmung gegenüber dem damaligen Angeklagten D, diesen zur Abgabe eines Geständnisses zu veranlassen. Der Versuch von Staatsanwalt B, die Befragung durch den Angeklagten zu beenden, scheiterte. Der Angeklagte setzte sie – immer lauter werdend – fort und war mittlerweile sichtbar genervt und aufgebracht. Er äußerte sich dabei gegenüber dem damaligen Angeklagten D, dass eine stationäre Psychotherapie noch das harmloseste sei, was ihm passieren könne. Wenn er ins Gefängnis komme, sei alles noch viel schlimmer, er solle also endlich die Wahrheit sagen. Wenn er einer psychiatrischen Behandlung zustimme, könne ihn dies vor späteren Verfahren bewahren und er könne so eine Gefängnisstrafe vermeiden.
Als auch dies aus Sicht des Angeklagten nicht zum Erfolg führte, sprang er plötzlich mit den Worten auf: „Sie kommen jetzt mit, ich zeige Ihnen mal, wie Ihre Zukunft aussehen kann”. Der Angeklagte verließ mit dem mittlerweile vollkommen eingeschüchterten D den Sitzungssaal, ohne den anderen Verfahrensbeteiligten mitzuteilen, was er vorhatte. Er ging zunächst zur Wachtmeisterei und anschließend – begleitet von einem Wachtmeister – in den Gewahrsam in den Keller des Amtsgerichts. Dort forderte er D auf, eine der 3 Zellen zu betreten, was dieser ohne jeden Widerstand tat, wobei er fragte, ob er das WC in der Zelle benutzen dürfe. Der Angeklagte erwiderte, er werde die Zellentür schließen, aber nicht verschließen. D solle einen Einblick gewinnen, wie es in so einer Zelle sei. Er, der Angeklagte, entscheide, wann D wieder rauskommen könne, dann werde die Verhandlung fortgesetzt und er solle ehrlich sein. Er könne auch schreien, wenn er vorher herausgelassen werden wolle. Die Toilette in der Zelle dürfe er nicht benutzen.
Dementsprechend wurde D, der nach wie vor große Angst hatte, in der Zelle eingeschlossen. Dort fasste er den Entschluss, nunmehr alles zuzugeben, wobei er davon ausging, dass er die Zelle auch unabhängig von einem Geständnis wieder verlassen dürfe. Nach etwa 20 Sekunden wurde die Zellentür wieder geöffnet, D verließ die Zelle und kehrte mit dem Angeklagten – nachdem er noch die Toilette im Erdgeschoss aufgesucht hatte – in den Sitzungssaal zurück. Dort wurde die Hauptverhandlung – ohne weitere Erklärung oder Nachfrage der anderen Verfahrensbeteiligten – fortgesetzt.
D legte sofort nach Fortsetzung der Verhandlung ein Geständnis ab und bekundete seine Bereitschaft, an einer Therapie teilzunehmen. Nach einer sich anschließenden Diskussion über die Kosten einer solchen Therapie wurde die Beweisaufnahme geschlossen. Staatsanwalt B beantragte eine Geldstrafe in Höhe von 70 Tagessätzen zu je 10 € unter Verwarnungsvorbehalt, dies mit der Auflage, an einer ambulanten Therapie teilzunehmen.
Der Angeklagte verkündete entsprechend dem staatsanwaltschaftlichen Antrag ein Urteil, wobei die Tagessatzhöhe lediglich 7 € betrug. Im Rahmen des Bewährungsbeschlusses wurde D die Weisung erteilt, sich innerhalb von 2 Monaten nach Rechtskraft des Urteils in eine ambulante Therapie zu begeben. Anschließend belehrte der Angeklagte D über die Bedeutung der Strafaussetzung zur Bewährung und über die Möglichkeit, gegen das Urteil Rechtsmittel einzulegen. Sowohl D wie auch Staatsanwalt B, der gegenüber dem Angeklagten D später meinte, die Sache sei für ihn mit der Rechtskraft günstig ausgegangen, verzichteten noch in der Hauptverhandlung auf Rechtsmittel. Der Angeklagte fertigte das schriftliche Urteil am 25. 9. 2009, wobei er in den Urteilsgründen weder den Strafbefehl noch den Einspruch erwähnte, vielmehr ein vollumfängliches Strafurteil schrieb.
Richter wollte Geständnis erzwingen
Durch sein gesamtes Verhalten wollte der Richter ein Geständnis des damaligen Angeklagten D erzwingen. Ziel war es dabei, das Verfahren zu einem rechtskräftigen Abschluss zu bringen, wobei er im Urteil eine Verwarnung mit Strafvorbehalt aussprechen und D die Teilnahme an einer Therapie auferlegen wollte. Nicht festgestellt wurde, dass der Angeklagte durch das Erzwingen des Geständnisses bewusst einen unrechtmäßigen prozessualen Nachteil für D bzw. eine falsche Entscheidung zu dessen Lasten herbeiführen wollte, da er – nicht widerlegbar – davon ausgegangen sei, dass der Strafbefehl auf Grund des bloßen Strafmaßeinspruchs im Schuldspruch bereits rechtskräftig, ein Geständnis für die Verurteilung also gar nicht mehr notwendig war“ (s.h. insgesamt: BGH, Urteil vom 31. 5. 2012 – 2 StR 610/11 (LG Kassel)).
Das Landgericht Kassel sprach den Angeklagten in erster Instanz frei, weil der Angeklagte hinsichtlich einer Rechtsbeugung nicht vorsätzlich handelte. Der Angeklagte war – nicht wiederlegbar – davon ausgegangen, dass der Strafbefehl hinsichtlich des Schuldspruchs bereits rechtkräftig sei und nur noch über das Strafmaß entscheiden werden müsse.
Dies machte der BGH auf die von der Staatsanwaltschaft eingelegten Revision nicht mit. Der zweite Senat findet deutliche Worte zur Rechtsbeugung:
„Die Beweiswürdigung hinsichtlich des vom Tatgericht verneinten Rechtsbeugungsvorsatzes ist lückenhaft.
Es mag dahinstehen, ob dies schon deshalb der Fall ist, weil der Tatrichter – worauf der Generalbundesanwalt vor allem in seiner Begründung des Rechtsmittels abstellt – bei seiner Annahme, der Angeklagte sei von einem beschränkten Einspruch des D ausgegangen und habe deshalb mit der Erzwingung des Geständnisses keinen unrechtmäßigen prozessualen Nachteil für diesen herbeiführen wollen, keine erschöpfende (und widerspruchsfreie) Würdigung der Beweise vorgenommen hat. Jedenfalls fehlt es an jeglicher Auseinandersetzung mit der nach den Feststellungen in Betracht kommenden Möglichkeit, der Angeklagte habe nicht nur ein Geständnis des D, sondern auch einen Rechtsmittelverzicht sowie eine Einwilligung in eine Therapieweisung und insoweit die konkrete Gefahr eines unrechtmäßigen Nachteils angestrebt und damit vorsätzlich gehandelt.
Nach den Feststellungen der Kammer hat der Richter in mehrfacher Weise objektives Verfahrensrecht in erheblicher Weise verletzt, indem er den Beschuldigten D hinsichtlich offenkundig von vornherein nicht in Betracht kommender Rechtsfolgen (stationäre Psychotherapie, Freiheitsstrafe ohne Bewährung) täuschte, um ihm Angst zu machen, und dies durch das zwangsweise Einsperren in eine Gewahrsamszelle entsprechend unterstrich. Dadurch hat er in grob rechtsstaatswidriger Weise nicht nur das Geständnis des D bewirkt, sondern letztlich auch erreicht, dass dieser in eine ambulante Therapie einwilligte und auf Rechtsmittel gegen die ergangenen Entscheidungen verzichtete; er hat so die konkrete Gefahr eines unrechtmäßigen Nachteils für den Beschuldigten D geschaffen.
Das Vorgehen des Angeklagten war dabei nicht nur davon bestimmt, dem Beschuldigten D Angst zu machen, um ihn zu einem Geständnis zu zwingen. Sein Ziel war es auch, das Verfahren unbedingt in der Hauptverhandlung zu einem rechtskräftigen Abschluss zu bringen. Bei einer solchen Vorstellung des Angekl. hätte sich das LG – auch wenn es von der Annahme des Angeklagten, der Einspruch sei nur beschränkt eingelegt, ausgegangen ist – mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob nicht das gesamte prozessuale Vorgehen des Angeklagten, das schließlich in das Einsperren des damaligen Angeklagten D in einer Gewahrsamszelle mündete, seinen Grund auch in der „Fixierung des Angeklagten auf einen rechtskräftigen Verfahrensabschluss” gehabt haben könnte. In diesem Fall läge der dem Angeklagten objektiv anzulastende Rechtsbeugung in dem durch unzulässige Mittel erwirkten Rechtsmittelverzicht, der in dem Verlust der Rechtsmittelbefugnis gegen ein prozessordnungswidrig zustande gekommenes Urteil ohne Weiteres eine Benachteiligung des D bedeuten würde. Ob der Angeklagten insoweit das Bewusstsein hatte, diesen auch zu einem (späteren) Rechtsmittelverzicht veranlassen zu können, oder ob er, als er nach Urteilsverkündung den Rechtsmittelverzicht in der Hauptverhandlung ansprach, zumindest die Vorstellung hatte, dass der Verzicht (auch) auf das fortwirkende unrechtmäßige Vorgehen zurückzuführen sei, hat das Landgericht – obwohl sich dies aufgedrängt hätte – nicht erörtert.
Schließlich hätte sich das Landgericht auch der Überlegung stellen müssen, ob die irreführende Einflussnahme auf den Beschuldigten D mit dessen anschließendem Einsperren in der Gewahrsamszelle nicht auch von der Vorstellung des Angeklagten bestimmt gewesen sein könnte, hierdurch dessen Einwilligung in eine ambulante Therapie zu erlangen. Dafür könnte immerhin sprechen, dass er unmittelbar vor dem Verlassen des Gerichtssaals den Beschuldigten noch dazu drängte, Therapieeinsicht zu zeigen und einer psychiatrischen Behandlung zuzustimmen, und dass zudem auch die Anordnung einer entsprechenden Therapieweisung Teil der von dem Angeklagten bereits vor der Hauptverhandlung ins Auge gefassten Rechtsfolgen war. Insoweit könnte der durch den Verfahrensverstoß bewirkte Nachteil des Beschuldigten D in der Erteilung einer Einwilligung zu der Therapieweisung liegen, die zwar nach dem Gesetz nicht erforderlich war (…), aber jedenfalls von ihm als faktische Voraussetzung für die Anordnung (und Durchführung) einer ihn beschwerenden entsprechenden Weisung angesehen wurde ((s.h. insgesamt: BGH, Urteil vom 31. 5. 2012 – 2 StR 610/11 (LG Kassel)).