Unter dieser Kategorie werden in der nächsten Zeit in regelmäßigen Abständen Vorträge zusammengefasst dargestellt, die auf einer Tagung gehalten wurden. Thema dieser Vorträge ist „ Mehr Gerechtigkeit – Aufbruch zu einem besseren Strafverfahren“. Zwar sind diese Zusammenfassungen nicht unmittelbar von Interesse für die Strafverteidigung unserer Mandanten, aber doch ein interessanter Aspekt unserer Tätigkeit sowie der  rechtspolitischen Entwicklungen im Strafprozess.

Winfried Hassemer fragt, was ist Gerechtigkeit im Strafverfahren?

Als Auftakt der Tagung wurde die Frage aufgeworfen, was eigentlich Gerechtigkeit ausgerechnet im Strafverfahren soll?

Gerechtigkeit und Strafverfahren habe man früher nicht so umstandslos nebeneinander stellen können, wie dies aktuell möglich sei; eine Entwicklung, die Hassemer unter verschiedenen Aspekten betrachtet.

Gerechtigkeit wäre am ehesten im materiellen Strafrecht zu erwarten, da dort Verbrechen und Strafen in ein geordnetes Verhältnis gesetzt wurden. Das Strafverfahren habe dann diese Gerechtigkeit sozusagen umgesetzt, eine dienende Rolle eingenommen. Also: „Das materielle Strafrecht bestimmt über die Ziele der Strafjustiz, das formelle über die Wege, die im Einzelfall der Strafrechtsanwendung zu diesen Zielen führen“. Leider sei diese Klarheit dahin, denn das Strafverfahren habe seine dienende Rolle des „Kellners“ verlassen und treibe sich zunehmend in der Küche um, eine wachsende Verselbständigung und Stärkung des Verfahrens sei zu beobachten: Nicht nur die Wahrheitsfindung und Sicherung der Hauptverhandlung seien nun die Aufgaben des Strafverfahrens, sondern auch die Sicherung der Gesellschaft vor gefährlichen Straftätern. Es passe zwar gut in die kriminalpolitische Landschaft hinein, nicht aber in das rechtsstaatliche Strafsystem, wenn man z.B. die Unschuldsvermutung ernst nähme.

Dennoch sei eine gedankenlose Rückkehr des Bildes vom Koch und Kellner nicht erstrebenswert, aber die Frage müsse erlaubt sein, ob man es mit der Prozeduralisierung, mit der Konzentration der Strafgerechtigkeit auf das Element des Verfahrens im Strafrecht, zu weit getrieben habe. These von Hassemer ist, dass mehr Gerechtigkeit eventuell dann entstehen könnte, wenn man den Einfluss des materiellen Strafrechts wieder stärke und die prozeduralen Elemente wie Opferschutz, Deal, Kronzeugenregelung zurückdränge. Denn durch die moderne und zunehmende Prozeduralisierung habe das Strafverfahren seinen Gegenstand verloren und dadurch auch die Maßstäbe eingebüßt. Die Verfahrensabsprachen und die Kronzeugenregelung hätten gezeigt, was passiert, wenn sich Verfahrensinteressen verselbstständigen- ein Verlust von Gerechtigkeit. Denn das Beispiel der Verfahrensabsprache zeige deutlich, dass das Tatgeschehen als Gegenstand und die richtige Aufklärung nicht mehr wichtig ist, also auch die Wahrheit nicht. „ An den Platz der Wahrheit ist etwas ganz anderes getreten: die Zustimmung des Verurteilten“. Dies könne aber nur funktionieren, wenn Verurteilter mit den anderen Beteiligten auf Augenhöhe wäre, was aber nicht der Fall wäre, denn das Strafverfahren sei eine asymmetrische Veranstaltung. Durch die Absprache z.B. seien schützende Formen aufgegeben worden; so auch der Maßstab der Wahrheitssuche. Hassemer fasst zusammen: „ Will man das alles auf den Punkt bringen, so wird man sagen können, dass dem modernen Strafverfahren und seinem Recht die Maßstäbe abhanden gekommen sind und die Strukturen verblassen. Wahrheit, Gerechtigkeit und schützende Formen scheinen heute in ihrer Schlichtheit keine tauglichen Wegweiser mehr zu sein. Sie werden von Interessen und Zielen verdeckt und überlagert, die das Strafverfahren mit seinen Mitteln nicht bedienen kann“.

Deshalb fordert er, die Maßstäbe Wahrheit, Gerechtigkeit und schützende Formen nicht aufzugeben. Schützende Formen dürften nicht aufgegeben werden und einem prozeduralen Popanz geopfert werden. „ In unserer Rechtskultur gefährdet ein Strafverfahren, das sich dem Anspruch der Wahrheitssuche entzieht, zuerst seine Ernsthaftigkeit und danach seine Rechtfertigung“.

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