In einem Beschluss des Bundesgerichtshofs geht es um die Frage, wann der Tatrichter von der Widerstandsunfähigkeit einer sexuell missbrauchten Person i.S.d. § 179 I Nr. 2 StGB ausgehen kann. Als widerstandsunfähig sieht der BGH ein Opfer an, welches nicht in der Lage ist, einen ausreichenden Widerstandswillen gegen das sexuelle Ansinnen des Täters zu bilden, zu äußern oder durchzusetzen. Dabei bedarf die Feststellung der Widerstandsunfähigkeit die Überzeugung des Tatrichters, dass das Opfer zum Widerstand gänzlich unfähig gewesen ist (BGH, Beschluss vom 10. 8. 2011 – 4 StR 338/11 (LG Bielefeld)).

Folgendes hatte sich zugetragen: „Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen behandelte der Angeklagte, der seit 1999 als „Psychologischer Psychotherapeut” tätig war und mit dem Zusatz „Biodynamische Körperpsychotherapie” warb, ab Februar 2007 die Zeugin A, die damals als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Universität beschäftigt war. Die Behandlung der von ihm diagnostizierten „Angst und depressiven Störung”, in deren Rahmen er Körperkontakt einsetzte, führte – was der Angeklagte zumindest erkannt hatte – zu einer zunehmenden Regredierung bei der Zeugin, wobei sie sich als Baby bzw. Kind und den Angeklagten als ihre Mutter ansah. Während der Therapie übte der Angeklagte in seinen Praxisräumen – nachdem es dort schon zuvor zu sexuellen Handlungen gekommen war – am 14. und 21. 6. 2007 den Geschlechtsverkehr mit der Zeugin aus; hierzu hatte er ihr erklärt, es sei Bestandteil der Körpertherapie, Energien durch Bewegungen überall am Körper zum Fließen zu bringen. Am 10. 8. 2007 kam es in einem vom Angeklagten zu Therapiezwecken genutzten Schwimmbad zum wechselseitigen Oralverkehr. Die Strafkammer bewertete dies als sexuellen Missbrauch unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses in 3 Fällen, jeweils in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person. Hierzu ging sie – sachverständig beraten – davon aus, dass die Zeugin nicht in der Lage gewesen sei, einen Willensentschluss gegen das sexuelle Ansinnen des Angeklagten zu bilden, da es für sie existentielle Bedeutung hatte, nicht ihre Mutter [den Angeklagten] zu verlieren, und sie seine Bedürfnisse und Wünsche als eigene empfand, was er … zumindest billigend in Kauf nahm“ (BGH, Beschluss vom 10. 8. 2011 – 4 StR 338/11 (LG Bielefeld)). Das Landgericht verurteilte den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in 3 Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren.

Die Annahme des schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person I.S.d. § 179 Absatz I Nr. 2, § 179 Absatz V Nr. 1 StGB) hielt der BGH aus den folgenden Gründen für fehlerhaft:

„Opfer einer Tat nach § 179 StGB kann nur sein, wer auf Grund einzelner, im Tatbestand des Absatzes 1 näher beschriebener Gegebenheiten unfähig ist, einen ausreichenden Widerstandswillen gegen das sexuelle Ansinnen des Täters zu bilden, zu äußern oder durchzusetzen (…). Die Feststellung der Widerstandsunfähigkeit ist eine normative Entscheidung (…); sie erfordert die Überzeugung des Tatrichters, dass das Opfer zum Widerstand gänzlich unfähig war (…). Die Überzeugung, dass die Zeugin A widerstandsunfähig im Sinne des § 179 Absatz I StGB war, stützt die Strafkammer allein auf das Gutachten eines Sachverständigen. Dabei kann dahinstehen, ob die Strafkammer, die sich dem Gutachten mit der Begründung angeschlossen hat, die Ausführungen des forensisch erfahrenen Sachverständigen seien detailliert, widerspruchsfrei und nachvollziehbar, für ihre Entscheidung über eine ausreichende Grundlage verfügte, da die bloße Nachvollziehbarkeit einer sachverständigen Beurteilung die notwendige richterliche Überzeugung nicht begründen kann. Dies bedarf indes keiner Entscheidung. Denn die im Urteil wiedergegebenen Ausführungen des Sachverständigen belegen nicht die Widerstandsunfähigkeit der Zeugin i.S.d. § 179 Absatz I StGB. Hierzu hat der Generalbundesanwalt in der Antragsschrift vom 4. 7. 2011 ausgeführt, dass die Zeugin „aus (Existenz-)Angst, die Beziehung zu ihrem Therapeuten – dem Angeklagten – könne abbrechen und ihre „Mutter” werde ihr genommen, nicht in der Lage gewesen [sei], „nein” zu sagen und Widerstand zu leisten. Bereits diese Ausführungen belegen, dass die Nebenklägerin sowohl das sexuelle Ansinnen des Angeklagten als auch ihre Handlungsalternativen und deren Folgen erkannt hat. Dass sie sich dafür entschieden hat – wenn auch aus krankhaft bedingter Existenzangst – keinerlei Widerstand zu äußern [und zu leisten], zeigt aber, dass die Nebenklägerin eine Abwägung vorgenommen, mithin ein Willensbildungsprozess stattgefunden hat. Der Umstand, dass sie in ihrer Entscheidung „nicht frei gewesen” sei, steht dem nicht entgegen. Denn er bedeutet lediglich, dass der zu erwartende Behandlungsabbruch für die Nebenklägerin einen derart großen (vermeintlichen) Nachteil dargestellt hätte, den sie für sich nicht in Kauf nehmen wollte““ (BGH, Beschluss vom 10. 8. 2011 – 4 StR 338/11 (LG Bielefeld)).

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