Leitsatz des Bearbeiters (Coskun):

  • Selbst eine nicht rechtmäßige (hier: nicht erforderliche) Diensthandlung eines Polizeibeamten ist im Augenblick ihrer Durchführung zunächst zu erdulden. Dies allerdings nur dann, wenn der Vollstreckungsbeamte nicht offensichtlich bösgläubig oder amtsmissbräuchlich handelt und durch die Vollstreckungshandlung kein irreparabler Schaden droht, durch die Abwehrhandlung aber erhebliche Verletzungen oder der Tod des Amtsträgers zu gewärtigen sind.

Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm hat am 07. 05. 2009) einen Beschluss erlassen, dem im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde lag (OLG Hamm – Beschluss 3 Ss 180/09):

I. „Nach den Feststellungen des Landgerichtes (LG ) soll der Angeklagte am 14. 3. 2007 zwei Nachbarskinder am Hals gefasst und leicht zugedrückt haben (nicht Gegenstand der Verurteilung). Der Vater des einen, der Zeuge U, und die Mutter des anderen Kindes riefen die Polizei. Den eintreffenden Polizeibeamten wurde der Angeklagte, der den Kindern bzw. den Elternteilen bekannt war (der Zeuge U hatte auch schon mal gelegentlich „ein Bier“ mit dem Angeklagten getrunken) mit Vor- und Nachnamen sowie mit seiner Wohnanschrift im Nachbarhaus bezeichnet. Die Polizeibeamten, die beiden Kinder, der Vater und die Mutter begaben sich sodann zur Wohnung des Angeklagten. in der 2. Etage des Nachbarhauses der Anzeigeerstatter. Als der Angeklagte auf das Schellen die Wohnungstüre öffnete und die Personen erblickte, beschimpfte er sogleich den Zeugen U und redete sich weiter „in Rage“. Er hatte zu diesem Zeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von 1,56‰. Den Polizisten gelang es nicht, den Angeklagten zu beruhigen. Schließlich erklärten sie dem Angeklagten, dass gegen ihn Anzeige wegen Körperverletzung zum Nachteil der Kinder erstattet worden sei und forderten ihn auf, sich auszuweisen. Dies verweigerte der Angeklagte trotz mehrmaliger Wiederholung der Aufforderung. Schließlich drohten sie ihm an, ihn auf Ausweispapiere durchsuchen zu wollen. (Polizeikommissar )PK G machte sodann ein bis zwei Schritte auf den Angeklagten zu, streckte seine linke Hand aus, um den rechten Arm des Angeklagten zu ergreifen und ihn zur Durchsuchung an die Wand zu stellen. Nunmehr schlug der Angeklagte unvermittelt gezielt mit der Faust gegen den Kopf des Polizisten, wobei er dessen Verletzung zumindest billigend in Kauf nahm. Der Polizist erlitt eine schmerzhafte Schädelprellung. Am Tattag litt er noch unter Kopfschmerzen und Übelkeit. Er war rund 1½ Wochen dienstunfähig krank.

Die Polizisten wollten – so die Feststellungen des LG – die Personalien des Angeklagten. deshalb mittels Ausweis feststellen, weil sie in der Vergangenheit schon „des Öfteren Probleme mit Identitätsfeststellungen gehabt“ haben. Es sei vorgekommen, dass sich angegebene Personalien im Nachhinein nicht als richtig herausgestellt hätten. Auch hätten Tatverdächtige im Nachhinein behauptet, nicht sie, sondern Familienmitglieder oder Bekannte hätten die Tat begangen. Die Polizisten hätten nicht gewusst, ob die vor ihnen stehende Person tatsächlich der von den Zeugen benannte Täter war oder ob es sich um eine andere männliche, ähnlich aussehende Person handelte.“

Das Landgericht verurteilte den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen.

Gegen dieses Urteil ging der Angeklagte unter Berufung auf sein Notwehrrecht gemäß § 32 StGB mit der Revision vor. Die Revision des Angeklagten blieb erfolglos.

II. Das Gericht kommt zwar zu dem Schluss, dass die von den Polizisten vorgenommenen Zwangsmaßnahmen nach § 163b I Strafprozessordnung nicht erforderlich waren, da der Fall nicht so lag, dass die Identität des Angeklagten „nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten feststellbar gewesen wäre, wenn nicht versucht worden wäre, ihn zum Zwecke der Auffindung eines Ausweises festzuhalten und zu durchsuchen. Vielmehr war hier den Polizeibeamten die Identität des Angeklagten. bereits bekannt“, da die Nachbarn des Angeklagten der Polizei Name und Anschrift des mitteilten, woraufhin sie diesen ja schließlich aufsuchen konnten. Dennoch sieht es die Abwehrhandlung des Angeklagten als nicht geboten.

Das Gericht begründet seine Entscheidung wie folgt:

„Das Vorliegen einer Notwehrlage allein reicht allerdings nicht dazu aus, das Verhalten des Angeklagten als gerechtfertigt anzusehen. Vielmehr muss seine Abwehrhandlung auch erforderlich und geboten gewesen sein. Letzteres war hier jedenfalls nicht der Fall. Eine Verteidigung ist trotz Vorliegens einer Notwehrlage dann nicht geboten, wenn vom Angegriffenen aus Rechtsgründen ein anderes Verhalten, entweder die Hinnahme der Rechtsgutverletzung oder ein eingeschränkteres, risikoloseres Verteidigungsverhalten zu erwarten gewesen wäre (Fischer, StGB, 56. Aufl., § 32 Rn 36). Geht es um die Verteidigung gegen (wenn auch rechtswidrige) polizeiliche Maßnahmen, so ist in Fällen, in denen der Vollstreckungsbeamte nicht offensichtlich bösgläubig oder amtsmissbräuchlich handelt und durch die Vollstreckungshandlung kein irreparabler Schaden droht, durch die Abwehrhandlung andererseits aber erhebliche Verletzungen oder der Tod des Amtsträgers zu gewärtigen sind, ein Verzicht auf die Abwehrhandlung zu verlangen. Die betreffende Person ist ggf. auf den Rechtsweg zu verweisen (vgl. Senatsbeschl. v. 4. 9. 2008 – 3 Ss 370/08 = BeckRS 2008, 14281). Dies folgt aus dem Rechtsgedanken des § 113 IV 2 StGB, der im Rahmen der Auslegung des Merkmals der Gebotenheit i.S. von § 32 StGB Bedeutung gewinnt (Dreher, NJW 1970, 1153 [1159]; Eser, § 113 Rn 36f.; Rosenau, in: LK-StGB, § 113 Rn 63; vgl. auch BGH, NStZ 1981, 22, 23). Hier war es so, dass dem Angeklagten eine kurzzeitige Einschränkung seiner körperlichen Fortbewegungsfreiheit, möglicherweise im Rahmen des Festhaltens auch geringfügiger Schmerz drohte. Diese zu erwartenden Beeinträchtigungen waren bagatellhaft. Die Verletzung durch die Abwehrhandlung war hingegen erheblich und die Gefährdung durch diese angesichts der Beschreibung des Angekl. als sehr wuchtige Person („2,04 m groß und ca. 120 kg schwer“) und angesichts des gezielten Schlages gegen den Kopf noch viel größer. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des LG handelte der geschädigte Polizist auch nicht offensichtlich bösgläubig oder amtsmissbräuchlich, sondern lediglich unter Verkennung des Begriffs einer hinreichenden Identifizierung. Bei dieser Sachlage wäre die Hinnahme der Diensthandlung und eine ggf. nachträgliche Klärung z.B. im Wege einer Dienstaufsichtsbeschwerde etc. vom Angeklagten zu verlangen gewesen. …“.