Im Zweifel für die lebensnahe Betrachtung

…nicht für den Angeklagten.

Es ist eine Unsitte deutscher Strafjustiz, bei verbleibenden Zweifeln aufgrund mangelnder Aufklärung bzw. Aufklärbarkeit des Sachverhalts, das Totschlagsargument der lebensnahen Betrachtung auszupacken, anstatt nach dem Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ zu verfahren.  Besonders an Amtsgerichten wird allzu gerne nach dieser Methode entschieden. Eine Überprüfung der Amtsgerichte findet diesbezüglich nur in den seltensten Fällen statt: Entweder es wird Berufung eingelegt, in der ein solcher Rechtsfehler zwar faktisch berichtigt, jedoch nicht rechtlich überprüft werden kann, oder der Angeklagte lässt das Urteil rechtskräftig werden. Von der Möglichkeit einer Sprungrevision wird nur äußerst selten Gebrauch gemacht.

Lediglich, wenn auch ein Landgericht solcherart unverschämt argumentiert, kann es zur Überprüfung eines derartigen Rechtsfehlers kommen. Das Landgericht Bonn hat sich diesbezüglich besonders grob verhalten:

„Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es am 27. 2. 2009 zu einem Überfall eines Sonnenstudios in M, bei dem die maskierten Täter, die beiden Mitangeklagten S und L, das Tatopfer unter Vorhalt einer ungeladenen Gaspistole zwangen, ihnen das Geld aus der Kasse, ca. 500 €, herauszugeben. Der Angeklagte hatte die beiden Haupttäter mit seinem Kraftfahrzeug von dem Wohnort des Mitangeklagten S, an dem er diesen und den weiteren Mitangeklagte L abgeholt hatte, zum Tatort gebracht. Vorangegangen war zunächst in B eine erfolglose Suche nach Gelegenheiten zu einem Überfall. Spätestens während dieser Fahrt war dem Angeklagten klar geworden, dass seine beiden Mitfahrer einen Überfall geplant hatten. Gleichwohl fuhr er sie weiter nach M, wo er beide auf einem in der Nähe des Sonnenstudios gelegenen Parkplatz aussteigen ließ und dort auf ihre Rückkehr nach dem Überfall wartete“ (BGH, Beschluss vom 7. 7. 2010 – 2 StR 100/10 (LG Bonn)).

„Das Landgericht verurteilte den Angeklagten wegen Beihilfe zur schweren räuberischen Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren ohne Bewährung und zur gesamtschuldnerischen Zahlung eines Schmerzensgeldbetrages von 2000 € an das Tatopfer (…) Dass die Mitangeklagten Mittel i.S. von § 250 Absatz I Nr. 1b StGB bei sich hatten, um den Überfall mit dem notwendigen Nachdruck ausführen zu können, sei ihm sicher bewusst gewesen. Jede andere, dem Angeklagten günstigere Annahme sei lebensfremd“ (BGH, Beschluss vom 7. 7. 2010 – 2 StR 100/10).

Der BGH: „Die Verurteilung wegen Beihilfe zur schweren räuberischen Erpressung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Für die Annahme der Kammer, dem Angeklagten sei sicher bewusst gewesen, dass die Mitangeklagten Mittel im Sinne § 250 Absatz I Nr. 1b StGB bei sich gehabt hätten, fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage.

Feststellungen dazu, dass über den Einsatz der Gaspistole (als Mittel i.S. von § 250 Absatz I Nr. 1b StGB) vor Tatbegehung im Auto gesprochen worden sei, fehlen genauso wie konkrete Hinweise darauf, dass der Angeklagte etwa bemerkt haben könnte, dass der Mitangeklagte S eine Waffe mit sich geführt hat. Die Kammer stellt deshalb bei ihrer Würdigung auch gar nicht auf die konkret mitgeführte Gaspistole, sondern allgemein darauf ab, ihm sei bewusst gewesen, dass die Mitangeklagte – um die Tat mit dem notwendigen Nachdruck ausführen zu können – Mittel i.S. von § 250 Absatz I Nr. 1b StGB einsetzen würden. Diese Schlussfolgerung wäre zwar dann nicht zu beanstanden, wenn nach der Lebenserfahrung tatsächlich eine Tatbegehung wie im vorliegenden Fall ohne den Einsatz von Mitteln i.S. von § 250 Absatz I Nr. 1b StGB nicht vorstellbar wäre. Dies ist aber nicht der Fall. Sowohl ein Vorgehen unter bloßer Anwendung von Gewalt oder Drohungen gemäß § 249 StGB als auch unter Verwendung eines nicht von § 250 Absatz I Nr. 1b StGB erfassten offensichtlich ungefährlichen Gegenstandes (…) kommt bei einer mit Nachdruck ausgeführten Tat in Betracht. Soweit das Landgericht darüber hinaus noch anführt, eine andere, dem Angeklagten günstigere Annahme sei lebensfremd, entbehrt dies jeglichen greifbaren Tatsachenkerns. Damit erweist sich die landgerichtliche Würdigung letztlich als eine bloße Vermutung, auf die eine Verurteilung des Angeklagten nicht gestützt werden darf“ (BGH, Beschluss vom 7. 7. 2010 – 2 StR 100/10).