Der Bundesgerichtshof hat sich auf eine Revision des Rechtsanwalts des Angeklagten gegen ein Urteil des Landgerichtes Dresden mit der Frage auseinandergesetzt, unter welcher Voraussetzung ein Heranwachsender einem Jugendlichen gleichgestellt ist und also Jugendstrafrecht zur Anwendung kommen muss.

Das Landgericht Dresden verurteilte den Angeklagten wegen Totschlags in Tateinheit mit versuchtem Raub mit Todesfolge, wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung, Raubes, versuchter Nötigung und Bedrohung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 12 Jahren.

„Nach den Feststellungen der Jugendkammer zu dem mit der Einsatzstrafe von 10 Jahren Freiheitsstrafe geahndeten Tötungsdelikt stellte der Angeklagte einen Fahrradfahrer, nachdem dieser ihm stark alkoholisiert nachts auf der Landstraße auf seiner Fahrbahn entgegen gekommen war und ihn zum Ausweichen gezwungen hatte. Empört schlug und trat der Angeklagte mehrfach gegen den Kopf und insbesondere in das Gesicht des völlig wehrlosen Mannes, der zahlreiche Schädelfrakturen und schwerste Schädigungen des Hirngewebes erlitt. Infolge der Verletzungen befand sich der Gesch. fast 1 Jahr lang im Wachkoma, bevor er an den schweren Folgen verstarb“ (BGH, Beschluss vom 15. 3. 2011 – 5 StR 35/11 (LG Dresden)).

Das Landgericht Dresden verurteilte den Angeklagten nach Erwachsenenstrafrecht. Hierzu teilt der BGH mit:

„Die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf den zur Tatzeit 20 Jahre und neun Monate alten Angeklagten begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Für die Gleichstellung eines Heranwachsenden mit einem Jugendlichen (§ 105 Absatz I Nr. 1 JGG) ist maßgebend, ob in dem Täter noch in größerem Umfang Entwicklungskräfte wirksam sind (…). Die Erwägungen, mit denen die sachverständig beratene Jugendkammer dies für den Angeklagten verneint, sind ungeachtet des erheblichen tatgerichtlichen Beurteilungsspielraums in diesem Bereich angesichts der biografischen Besonderheiten des Angeklagten allein auf der Grundlage der benannten Kriterien im Ergebnis nicht nachvollziehbar, sondern erweisen sich vielmehr als lückenhaft“ “ (BGH, Beschluss vom 15. 3. 2011 – 5 StR 35/11 (LG Dresden)).

Dies wird wie folgt begründet:

„Nach den Feststellungen verließ die Mutter des Angeklagten, als dieser 8 Jahre alt war, die Familie ohne vorherige Ankündigung und meldete sich daraufhin jahrelang nicht mehr. Der Angeklagte litt darunter, dass sein Vater, der sich wenig um ihn und seine 1 Jahr ältere Schwester kümmerte, ein „stadtbekannter Alkoholiker” war. Mit 14 Jahren gelang es dem Angeklagten, wieder Kontakt zu seiner mit einem neuen Partner in einem Nachbarort lebenden Mutter aufzunehmen. Unterdessen verließ der Vater die Kinder, zog zu seiner Lebensgefährtin und ließ die Kinder in der Alltagsbewältigung im Wesentlichen auf sich allein gestellt. Als der Angeklagte 17 Jahre alt war, verließ auch die ältere Schwester die Wohnung. Der Angeklagte konsumiert seit seinem 14. Lebensjahr Alkohol, seit dem Abbruch seiner Ausbildung regelmäßig in größeren Mengen. Seit seinem 16. Lebensjahr beging er Straftaten, darunter auch Raubdelikte, und ist deswegen fünfmal jugendstrafrechtlich geahndet worden. Zuletzt wurde er am 20. 11. 2008, unmittelbar vor Begehung der verfahrensgegenständlichen Taten, vom AG Riesa wegen zweifachen Fahrens ohne Fahrerlaubnis unter Einbeziehung einer früheren Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von 1 Jahr verurteilt. Das AG ging damals auf Grund seines „persönlichen Eindrucks” von dem Angeklagten davon aus, dass er eher jugendtypisch wirke und sich auch so verhalte. Trotz eigener Wohnung gleiche seine Lebenssituation eher der eines Jugendlichen. Eine erkennbare Lebensplanung liege noch nicht vor, er lebe in den Tag hinein und lasse sich eher vom Lustprinzip leiten, als von Vernunfterwägungen steuern.

Das Landgericht gelangt zu dem Schluss, dass beim Angeklagten vorliegende „Defizite in den Reifekriterien” nicht Folge einer Retardierung seien, sondern Merkmale einer dissozialen Persönlichkeit, die bereits zu den Tatzeitpunkten fertig entwickelt gewesen und damit einer erzieherischen Beeinflussung nicht mehr zugänglich sei; eine Nachreifung sei beim Angeklagten nicht zu erwarten, bei ihm seien keine „großen Entwicklungskräfte” mehr wirksam. Es stützt sich dabei auf das Gutachten der psychiatrischen Sachverständigen, die davon ausgeht, dass der Angeklagte in einem defizitären und sozial randständigen Umfeld aufgewachsen sei; deswegen sei seine soziale Integration nicht gelungen. Auf Grund seiner Entwicklungsbedingungen sei er indes „notgedrungen zeitiger erwachsen geworden als andere Jugendliche”. Die Normorientierung des Angeklagten sei nur unzureichend am Beispiel erwachsener Bezugspersonen erfolgt, weshalb er sich eigene Normen abhängig von den Bezugspersonen seiner Altersgruppe erarbeitet habe. Seine Entwicklung weise gerade keine Retardierung aus, sondern sei lediglich in die falsche Richtung erfolgt.

Der Schluss, dass die vom Landgericht durchaus erkannten „Defizite in den Reifekriterien” – Orientierung an Gruppennormen; soziale Beziehungen und Partnerschaft; Impulsivität und Konfliktmanagement – nicht Folge einer Retardierung, sondern Merkmale einer „fertig entwickelten” dissozialen Persönlichkeit seien, bleibt ohne hinreichenden Beleg. Er wird allenfalls durch die Bewertung der Sachverständigen gestützt, dass der Angeklagte über „festgefasste Konzepte” verfügt. Für deren Vorhandensein wird indes nur – unzureichend – angeführt, dass der Angeklagte „sehr bestimmt und deutlich” erklärt habe, eine weitere Ausbildung komme für ihn nicht mehr in Betracht, hinsichtlich derer er sich für zu alt halte.

Den als Beleg für die Reife des Angeklagten herangezogenen Umständen, dass ihm ein Schulabschluss gelungen sei und er vorzeitig die erforderliche Selbstständigkeit im Hinblick auf die alltägliche Versorgung erlangt habe, kann nur im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Angeklagten unter Berücksichtigung der Umweltbedingungen ein Stellenwert zukommen (…). Die von der Sachverständigen und ihr folgend der Jugendkammer vorgenommene Würdigung lässt indes wesentliche Gesichtspunkte außer Betracht: Die gegenwärtige Lebenssituation des Angeklagten wird nicht dargestellt und bewertet. Das Landgericht geht nicht auf aus den Begleitumständen der Taten sprechende Verhaltensweisen und Neigungen des Angeklagten ein, die typisch für einen in der Entwicklung befindlichen Jugendlichen sein können (Tat 1: Raub eines Fan-Schals eines vom Angeklagten nicht unterstützten Fußballclubs; Tat 2: ziel- und sinnloses Umherfahren zum Zeitvertreib); mit ihnen setzt sich das Urteil nicht auseinander. Die Sachverständige hat der Beurteilung der Reife des Angeklagten die in der „Bonner Delphi-Studie” (…) erarbeiteten Kriterien zu Grunde gelegt, sich jedoch gerade mit im Fall des Angeklagten möglicherweise kritischen Kriterien (insbesondere „Emotionalität: Stabilität emotionaler Reaktionen” und „Impulsivität und Konfliktmanagement”) nicht erkennbar befasst. Schließlich wird die abweichende Stellungnahme der Vertreterin der Jugendgerichtshilfe zur Frage der Reife des Angeklagten nur erwähnt; eine Darstellung ihrer Argumente und eine Auseinandersetzung mit ihnen findet jedoch nicht statt.

Die Frage der Anwendung von Jugend- oder allgemeinem Strafrecht muss daher auf Grund neuer Feststellungen erneut geprüft werden. Dabei kann auch dem Umstand Bedeutung zukommen, dass der Angeklagte, der in Unterbrechung der Untersuchungshaft in diesem Verfahren die vom AG Riesa am 20. 11. 2008 verhängte Jugendstrafe verbüßte, auf seinen Antrag hin aus dem Jugendstrafvollzug herausgenommen und in den Erwachsenenstrafvollzug verlegt wurde. Insoweit wird das neue Tatgericht den Gründen für die Anordnung der Vollstreckung der Jugendstrafe nach den Vorschriften des Strafvollzugs für Erwachsene und der Frage näher nachzugehen haben, ob sich aus diesen Rückschlüsse auf den Reifestand des Angekl. zum Zeitpunkt der Taten ergeben können“ “ (BGH, Beschluss vom 15. 3. 2011 – 5 StR 35/11 (LG Dresden)).

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