Das Oberlandesgericht (OLG) Brandenburg hat in einem Fall, in dem es um die Frage der Auslegung des § 177 I StGB ging, entschieden:
„Die Erheblichkeitsschwelle von sexuellen Handlungen i.S. des § 184g Nr. 1 StGB wird durch einen aufgedrängten kurzzeitigen Zungenkuss ohne sexuell motivierte Berührung des übrigen Körpers einer 15-jährigen Geschädigten nicht erreicht“ (OLG Brandenburg, Beschluss vom 28. 10. 2009 – 1 Ss 70/09)
Das Gericht begründet seine Entscheidung wie folgt:
„§ 177 StGB (sexuelle Nötigung) schützt die sexuelle Selbstbestimmung einer Person als Teilaspekt ihrer Menschenwürde und stellt die in § 177 Absatz I StGB genannten Nötigungshandlungen als besonders intensive Eingriffe in den Rang eines Verbrechens. Er setzt voraus, dass das Tatopfer mit Gewalt gezwungen wird, sexuelle Handlungen des Täters oder eines Dritten zu dulden oder am Täter oder einem Dritten vorzunehmen. Die sexuelle Handlung muss angesichts der hohen Strafandrohung und den Folgen der Einstufung einer Handlung als Verbrechen von einiger Erheblichkeit sein. Unterhalb dieser Schwelle liegende Nötigungshandlungen fallen unter § 240 StGB (vgl. Fischer, StGB, 55. Aufl., § 177 Rn 4). Ob die Schwelle der Erheblichkeit für das betroffene Rechtsgut überschritten wurde, ist nach Art, Intensität und Dauer der sexualbezogenen Handlung und der Beziehung der Beteiligten untereinander zu beantworten, wobei die gesamten Begleitumstände des Tatgeschehens zu berücksichtigen sind (vgl. BGH, NStZ-RR 2007, NSTZ-RR Jahr 2007 Seite 12; OLG München, Urt. v. 20. 10. 2008 – OLGMUENCHEN 20.10.2008 Aktenzeichen 5 St RR 180/08 – juris; vgl. insgesamt: OLG Brandenburg, Beschluss vom 28. 10. 2009 – 1 Ss 70/09).
Weiter führt das Gericht aus:
„Die sexuelle Selbstbestimmung ist am ehesten bei Kontakt an Geschlechtsorganen verletzt. Abhängig von der Einwirkungsintensität im Einzelfall können aber auch Berührungen an anderen Körperregionen die Schwelle der Erheblichkeit überschreiten. Ein Kuss kann bei Personen verschiedenen Geschlechts nicht stets und ohne Rücksicht auf die Begleitumstände als sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit gewertet werden. Dies gilt auch für den Zungenkuss (vgl. BGH, StV 1983, STV Jahr 1983 Seite 415f.). Als maßgebliche Umstände für die vorzunehmende Bewertung kommen insbesondere Intensität und Dauer des Kusses sowie etwaige begleitende Handlungen wie Berührungen des Körpers, das Verhältnis zwischen Täter und Opfer und die konkrete Tatsituation in Betracht“ (OLG Brandenburg, Beschluss vom 28. 10. 2009 – 1 Ss 70/09).
Bezüglich der Tatsituation hatte das vorinstanzliche Landgericht folgendes festgestellt: Der Angeklagte, der der Zeugin jahrelang bekannt war, habe plötzlich und für sie unerwartet der Zeugin in den Nacken gegriffen und sie so zu sich in Richtung Fahrersitz herübergezogen. Er habe die Zeugin dann auf die Lippen geküsst und kurzzeitig seine Zunge in ihren Mund gesteckt (OLG Brandenburg, Beschluss vom 28. 10. 2009 – 1 Ss 70/09).
„Zwar ist das Eindringen des Angeklagten mit der Zunge in den Mund der Zeugin ein Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung der Zeugin, der über die einer bloßen Berührung der Lippen hinausgeht. Jedoch ist unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Geschädigte 15 Jahre alt und damit für sie ein Zungenkuss grundsätzlich nichts Unbekanntes gewesen sein dürfte, der kurzen Zeit des Kusses sowie des Umstandes, dass der Angeklagte die Geschädigte im Übrigen am Körper nicht berührt hat, hier davon auszugehen, dass in dem Zungenkuss keine sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit zu sehen ist“ (OLG Brandenburg, Beschluss vom 28. 10. 2009 – 1 Ss 70/09).