Der Bundesgerichtshof (BGH) hat eine Revision der Angeklagten gegen ein Urteil des Landgerichts Augsburg für unbegründet erachtet.

Das Landgericht Augsburg hatte die Angeklagte wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit vorsätzlichem gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr sowie mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 3 Monaten verurteilt.

Die Angeklagte hatte durch ihren Verteidiger in der Revision unter anderem gerügt, dass vor Verlesung eines Arztbriefes ein nach § 251 IV 1 StPO erforderlicher Gerichtsbeschluss nicht ergangen ist. Der Rüge lag folgendes Geschehen zu Grunde: „Am 1. Verhandlungstag verlas der Vorsitzende während der Vernehmung der sachverständigen Zeugin Dr. G im allseitigen Einverständnis den Arztbrief des Prof. Dr. W. K vom 5. 9. 2008. Die Revision macht geltend, dass der Arztbrief der Kammer zum Nachweis der Folgen des versuchten Totschlags und der konkreten Lebensgefahr beim Geschädigten gedient habe, so dass er nicht nach § 256 StPO habe verlesen werden können. Ein Beschluss der Strafkammer nach § 251 STPO § 251 Absatz IV 1 StPO sei daher unverzichtbar gewesen“ (BGH, Beschluss vom 8. 2. 2011 – 4 StR 583/10 (LG Augsburg)).

Der Verteidiger bezog sich dabei auf die hierzu bereits ergangene Rechtssprechung des BGH. Der zweite Senat hatte entscheiden, dass in Fällen in denen etwa eine Zeugenaussage durch Verlesung eingeführt werden soll, nur ausnahmsweise ein Verstoß gegen § 251 IV StPO nicht auf dem Urteil beruht und zwar dann, „wenn den Verfahrensbeteiligten der Grund der Verlesung bewusst war und die persönliche Vernehmung des Zeugen zur weiteren Aufklärung nicht hätte beitragen können“ (BGH, Beschluss vom 10. 6. 2010 – 2 StR 78/10 (LG Fulda)).

Der vierte Senat rudert hier deutlich zurück und fasst die Gründe, unter denen ein Urteil auf diesem Verfahrensverstoß nicht beruhen kann, (noch) allgemeiner:

„Das Urteil kann auf dem nicht ergangenen Gerichtsbeschluss beruhen, wenn sich den Verfahrensbeteiligten der Grund der Verlesung nicht erschlossen hat und damit die der Anordnung der Verlesung zu Grunde liegenden Erwägungen rechtlich nicht überprüfbar sind bzw. das Gericht die Verlesungsvoraussetzungen (im Gegensatz zum Vorsitzenden) möglicherweise verneint hätte (…). Soweit die Unterrichtungs- und Überprüfungsfunktion des § 251 Absatz IV 1 und 2 StPO betroffen ist, beruht das Urteil hier ersichtlich nicht auf dem fehlenden Beschluss; der Grund und der Umfang der Verlesung waren klar – nämlich die Einführung des Arztberichtes in die Hauptverhandlung während der Vernehmung der sachverständigen Zeugin mit allgemeinem Einverständnis (§ 251 Absatz I Nr. 1 StPO)“ (BGH, Beschluss vom 8. 2. 2011 – 4 StR 583/10 (LG Augsburg)).

Volle Kraft zurück also: Unter dieser Argumentation kann jede Revision, die rügt, ein gemäß § 251 IV StPO zwingender Gerichtsbeschluss sei nicht ergangen, zurückgewiesen werden. Dass ein Beweismittel, sei es eine Zeugen- oder Sachverständigenaussage, durch die Verlesung eigeführt werden sollte, ist evident. Dies wird in aller Regel auch den Verfahrensbeteiligten bewusst sein. Deswegen kann aber ein Beruhen des Urteils auf dem Verstoß nicht ausgeschlossen werden. Hierzu der zweite Senat: „Die in § 251 Absatz IV 1 StPO verlangte Entscheidung durch den gesamten Spruchkörper dient nicht nur der Unterrichtung der Verfahrensbeteiligten über den Grund der Verlesung. Sie beruht vor allem auch darauf, dass die Ersetzung der Vernehmung eines Zeugen durch die Verlesung einer Niederschrift den Grundsatz der Unmittelbarkeit einschränkt, der zur Qualitätssicherung der Beweisaufnahme eine direkte und unvermittelte Wahrnehmung der Gerichtspersonen in der Hauptverhandlung gewährleisten soll. Das Beschlusserfordernis in § 251 Absatz IV 1 StPO soll angesichts der potentiellen Bedeutung der Verlesung für die Zuverlässigkeit der Beweisgewinnung und Rekonstruktion des Tatgeschehens auch gewährleisten, dass das Gericht durch eine gemeinsame Meinungsbildung sowie in seiner Gesamtheit die Verantwortung dafür trägt, ob ausnahmsweise die Einschränkung der Unmittelbarkeit durch den Verzicht auf den Zeugen hinnehmbar ist oder die Aufklärungspflicht die Vernehmung der Beweisperson gebietet“ ((BGH, Beschluss vom 10. 6. 2010 – 2 StR 78/10 (LG Fulda)).

Nach der neuen Interpretation des vierten Senats hingegen ist ein bisschen weniger Unmittelbarkeitszusammenhang vertretbar.

Leider hatte der Verteidiger in der Revision versäumt vorzutragen, warum der unmittelbare Zeugenbeweis möglicherweise zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Diesen Strohhalm greift der Senat: „Ob es daneben geboten war, den Verfasser des Arztbriefes als sachverständigen Zeugen zu hören, war eine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht. Der Senat kann hier ausschließen, dass die persönliche Vernehmung des Verfassers des mehrseitigen Arztbriefes eine weitergehende Aufklärung des Falles ermöglicht hätte als die erfolgte Verlesung desselben. Anhaltspunkte dafür, dass der Verfasser als Zeuge weitere Gesichtspunkte oder Umstände hätte bekunden können, die über die Angaben in dem Arztbrief hinausgehen und zu einer anderen Beurteilung der Lebensgefahr für den Geschädigten hätten führen können, sind nicht ersichtlich und werden auch von der Revision nicht vorgetragen. Deshalb kann auch ausgeschlossen werden, dass das Gericht unter Beachtung von Aufklärungsgesichtspunkten anders entschieden hätte als der Vorsitzende allein (…) (BGH, Beschluss vom 8. 2. 2011 – 4 StR 583/10 (LG Augsburg)).

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