„Nach der Straftat richtet sich alle öffentliche Aufmerksamkeit auf den Täter“, stellte Hans Joachim Schneider vor fast 35 Jahren fest. Das Opfer war, wie Weigend zur selben Zeit ausdrückte, eine „vergessene Figur im Strafverfahren“. Dies war auch folgerichtig, weil bis in die 1970er die Resozialisierung des Täters dem öffentlichen Interesse entsprach. „Staatliches Strafrecht“, so konnte Hassemer noch 1990 ausführen, „entsteht mit der Neutralisierung des Opfers“.
Diese Terminologie hat sich maßgeblich geändert: Zahlreiche Gesetzesinitiativen mit Namen wie Zeugenschutzgesetz (1988) oder Opferrechtsreformgesetz (2004 und 2009) haben Eingang gefunden in das Strafverfahrensrecht.
Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs
Vorläufiger Höhepunkt und in seiner Diktion nach meinem Dafürhalten der Beweis, dass die These von dem Paradigmenwechsel des Beschuldigtenstrafrechts hin zu einem Opferstrafrecht nicht mit einem Fragezeichen, sondern einem Ausrufezeichen zu versehen ist, ist das im September 2013 in Kraft getretene „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs“, kurz (StORM-Gesetz), welches aufgrund der Beratungen des von der Bundesregierung eingesetzten Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen“ statuiert wurde. Man kann sagen, dass die Abkürzung, also StORM-Gesetz, trefflich gewählt ist: wie ein Sturm droht dieses Gesetz die Unschuldsvermutung und den Grundsatz des fairen Verfahrens aus der Strafprozessordnung zu blasen. Um sich dies zu verdeutlichen, braucht man nicht einmal die Gesetzesbegründung zu lesen, es reicht das Gesetz (was selten ist).
Unschuldsvermutung nicht mehr en vogue
Es steht doch zum Zeitpunkt der Anklageerhebung noch gar nicht fest, wer Täter und wer Verletzter ist. Zumindest nicht im rechtsstaatlichen Sinne. Wie soll denn der Richter unbefangen über einen solchen Antrag auf Eröffnung der Hauptverhandlung entscheiden? Es hat doch eine erhebliche vorverurteilende Wirkung, wenn der Tatrichter der solcherart gestellten Anklage stattgibt. Die Frage nach einer besonderen Belastung des Zeugen durch wiederholte Vernehmung kann doch nur im Kontext mit der Würdigung des angeklagten Tatgeschehens und dem bisherigen Verhalten des Angeklagten beantwortet werden.
Ob diese Vorschrift mit der Unschuldsvermutung vereinbar ist und den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Regelung der Zuständigkeit genügt, kann und soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Gerade dieser Satz aus dem § 24 GVG ist auch deswegen bereits heftig kritisiert worden, steht er doch sinnbildlich für den Opferrechtsreformeifer.
Besonders alarmierend ist (auch) das anvisierte Ziel: Die Vermeidung von Mehrfachvernehmungen. Dies bedeutet sich von der Konstanzanalyse zu verabschieden: Einem – wie auch der BGH hervorhebt (BGHSt 45, 164 (172)) – wesentlichen methodischen Element der Aussageanalyse.
Videovernehmung als Regelfall
In dieselbe Richtung, nämlich Vermeidung von Mehrfachvernehmungen mutmaßlicher Opfer, gehen andere Gesetzesänderung durch das StORM-Gesetz.
Mit diesem Gesetz ist es theoretisch möglich, dass ein Angeklagter aufgrund einer einzigen Aussage eines Belastungszeugen verurteilt wird, ohne sich gegen den Vorwurf konkret verteidigen zu können. So soll nach neuer Gesetzeslage eine Videovernehmung des Belastungszeugen durchgeführt werden, wenn der erwachsene Belastungszeuge behauptet, als Minderjähriger missbraucht worden zu sein (§ 58a Absatz 1 Nr. 1 StPO). Diese Videovernehmung kann sodann, um Mehrfachvernehmungen des Belastungszeugen und dadurch entstehende Belastungen für den Zeugen zu vermeiden, in der Hauptverhandlung vorgeführt werden (§ 255a Absatz 2 StPO). An der Videovernehmung im Ermittlungsverfahren muss zwar für den Verteidiger und den Angeklagten Gelegenheit zur Mitwirkung bestanden haben.
Kein vorheriges Akteneinsichtsrecht bei Videovernehmung im Ermittlungsverfahren
Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass nach bisheriger Auffassung des Bundesgerichtshofs der Verteidiger vor dieser Videovernehmung kein zwingendes Akteneinsichtsrecht hat (BGH, NJW 2003, S 2761). Der Verteidiger (https://strafverteidigung-hamburg.com/strafverteidiger/) kann sich also, im Gegensatz zu den Vernehmungsbeamten, nicht über die Aktenlage informieren und dem Zeugen etwaige Unstimmigkeiten vorhalten.
Gelegenheit zur Mitwirkung an der Videovernehmung reicht aus
Was noch gravierender ist: Die Gelegenheit zur Mitwirkung für den Verteidiger soll reichen. Konkret bedeutet dies, dass, sofern der Strafverteidiger einige Zeit vorher über den bevorstehenden Vernehmungstermin informiert wurde (nach Auffassung des OLG München sind zwei Tage vor dem Termin zu kurzfristig, StV 2000, S. 352), hieran jedoch aufgrund anderer Verpflichtungen nicht teilnehmen kann, die Videovernehmung gleichwohl durchgeführt und in der Hauptverhandlung vorgespielt werden kann. Der Belastungszeuge würde somit zu keinem Zeitpunkt kritisch durch den Strafverteidiger befragt werden können. Ein massiverer Eingriff in die Verteidigungsrechte des Angeklagten sowie auf Durchführung eines fairen Verfahrens ist kaum vorstellebar, jedoch nach derzeitiger Gesetzeslage theoretisch möglich.
Ob eine solche – zugegeben – zugespitzte Situation eintreten wird und in einem Revisionsverfahren den (unwahrscheinlichen) Segen der Revisionsgerichte erhält, bleibt abzuwarten. Nach aktueller Gesetzeslage kann eine solche Situation jedoch eintreten.
Die Neutralisierung des Angeklagten
Bereits im Jahr 2002 hat Hassemer konstatiert, dass das Opfer aus dem Schatten herausgetreten ist und die Kriminalpolitik nunmehr antreibt. Und wie! Durch Einschränkung der Verteidigerrechte wird heute der Angeklagte neutralisiert, nicht das Opfer. Ein Systembruch, den der Gesetzgeber immer weiter vertieft.