Das neue Sexualstrafrecht hat zu enormen Kontroversen geführt. Im Blickpunkt steht dabei auch § 177 Abs. 2 Nr. 2 Strafgesetzbuch (StGB), der den Täter bestraft, der es ausnutzt, dass das Opfer auf Grund seines körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist (sexueller Übergriff). Im Mittelpunkt dieses Beitrages sollen die Fälle stehen, in denen das „Tatopfer“ durch Alkohol- oder Betäubungsmittel entsprechend eingeschränkt ist.

Hintergrund

Mit dem fünfzigsten Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches wurde das Sexualstrafrecht einer grundlegenden Reform unterzogen, die seit dem 10.11.2016 geltendes Recht ist. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte damit vor allem der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung verbessert werden. Vorausgegangen waren jahrelange Diskussionen, wie vermeintliche und tatsächliche Lücken in diesem rechtlichen Bereich geschlossen werden können. Auch in der breiten medialen Berichterstattung fand diese Debatte und dem Slogan „Nein-heißt-Nein“ Einzug. Entscheidend soll bei der zukünftigen Bewertung von sexuellen Handlungen nun sein, dass der Wille des Opfers erkennbar ist und der Täter sich darüber hinwegsetzt. Im Mittelpunkt steht der Schutz der freien Entscheidung – ob, wann und wie es zu einer sexuellen Begegnung kommt. Es geht nicht um möglichen Widerstand, sondern um Zustimmung. Grundtatbestand ist dabei der neue § 177 StGB

Sexueller Übergriff: Anwendbarkeit auf Diskothekenbekanntschaften

Der Gesetzgeber nimmt in seinen Ausführungen zu der Reform des Sexualstrafrechts, und insbesondere im Hinblick auf § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB, keine Stellung zu sogenannten Diskothekenbekanntschaften und zu der Frage, ob dieser auf diese Fälle Anwendung findet. Macht man sich jedoch die dahinter stehende Konzeption des Gesetzgebers klar, der den Täter bestrafen will, der die eingeschränkte Fähigkeit zur Willensbildung und -äußerung des Opfers (und sei diese durch Alkohol oder Betäubungsmittel herbeigeführt) ausnutzen will, kann es einen keinen Zweifel daran geben, dass der sexuelle Übergriff i.S.d. § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB auf Discothekenbekanntschaften Anwendung findet. In diesem Bereich ist die Neureglung natürlich besonders sensibel. Denn nicht selten sind hier sowohl der vermeintliche Täter, als auch das vermeintliche Opfer alkoholisiert. Zum anderen dürfte es nicht der Realität entsprechen, dass in einem solchen Szenario für jede irgendwie sexuell konnotierte Handlung vorher die Zustimmung des Gegenübers eingeholt wird. Gerade aus diesem Grund halten Kritiker die Reform für „weltfremd“ und befürchten eine Kriminalisierung üblicher Gepflogenheiten. Entgegentretend wird jedoch das Selbstbestimmungsrecht der Frau betont, das überall zu achten sei.

Kriminalisierung üblicher Gepflogenheiten

Tatbestandsvoraussetzungen des 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB

Nach § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB macht sich der Täter strafbar, wenn er es ausnutzt, dass die Person auf Grund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist, es sei denn, er hat sich der Zustimmung dieser Person versichert (sexueller Übergriff). Dieser Abschnitt dient dem sexuellen Selbstbestimmungsrecht von Opfern, die zwar einen natürlichen Willen bilden und äußern können, in dieser Fähigkeit jedoch aufgrund von körperlichen oder psychischen Schwächen erheblich eingeschränkt sind. Dabei kann der natürliche Wille explizit verbal oder konkludent erklärt werden, aus einer objektiven Sicht muss er aber eindeutig sein. Eine entsprechende Zustimmung muss bereits vor der jeweiligen sexuellen Handlung eingeholt werden. In Zusammenschau mit dem Vorhergesagten gilt hier also der „Nur-Ja-heißt-Ja“-Grundsatz. Sich widersprechende Aussagen oder widersprüchliches Verhalten bedeutet in dieser Tatbestandsalternative also gerade keine Zustimmung.

Die Einschränkung muss eine gewisse Erheblichkeit aufweisen, also ins Gewicht fallen. Diese Erheblichkeit liegt vor, wenn die Einschränkung aus objektiver Sicht offensichtlich auf der Hand liegt und sich dem unbefangenen Beobachter ohne Weiteres aufdrängt. Erfasst werden damit auch stark betrunkene Menschen, deren Trunkenheitsgrad die Fähigkeit zur Willensbildung oder -äußerung nicht absolut ausschließt.

Symbolbild für Sexualstrafrecht: Mann und Frau in schwarz-weiß

Ausnahmsweise nicht strafbar macht sich, wer sich zuvor der Zustimmung der Person zur sexuellen Handlung versichert hat. Dadurch soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass auch Personen, die generell in der Fähigkeit zur Äußerung mit eines entgegenstehenden Willens erheblich eingeschränkt sind, Sexualität leben sollen, wenn dies ihrem natürlichen Willen entspricht. Die Ausübung ihres Sexuallebens ist Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 1 Abs. 1 GG. Die Zustimmung muss Ausdruck eines natürlichen Willens der geschützten Person sein. Der natürliche Wille kann verbal oder konkludent (zum Beispiel durch sexualisierte Berührungen die die geschützte Person freiwillig an der handelnden Person vornimmt) erklärt werden. Die erforderliche Zustimmung fehlt auch dann, wenn sie zunächst erteilt wird, dann aber während der sexuellen Handlung von der geschützten Person ausdrücklich oder konkludent zurückgenommen wird. In diesem Fall macht sich strafbar, wer die Rücknahme der Zustimmung ignoriert.

Jede einzelne sexuelle Handlung – auch innerhalb ein und desselben Geschlechtsaktes (zum Beispiel Streicheln der Brust, dann Streicheln des Intimbereiches, etc.) – muss vorab zwischen den beteiligten Sexualpartnern konsentiert sein muss. Sonst kann es ein sexueller Übergriff sein. Dies ist aufgrund der erhöhten Schutzbedürftigkeit der Personengruppe anders als bei Personen, die zur freien Willensbildung und -äußerung in der Lage sind, erforderlich. Aus diesem Gedanken heraus macht sich der Handelnde grundsätzlich auch dann strafbar, wenn die geschützte Person zwar im Nachhinein auf der Grundlage eines natürlichen Willens kundtut, dass sie die sexuelle Handlung freiwillig vorgenommen habe, der Täter sich hierüber aber nicht vorab versichert hat. Denn der Verzicht auf die vorherige Konsentierung birgt die abstrakte Gefahr, dass die geschützte Person in ihrer sexuellen Selbstbestimmung verletzt wird. Der Umstand, dass im Nachhinein die Freiwilligkeit vom Opfer bekundet wird, kann aber in der Strafzumessung Berücksichtigung finden. In der Regel werden diese Fälle allerdings keine Bedeutung erlangen, weil hier zum einen eine eindeutige konkludente Zustimmung des Opfers naheliegt und der Handelnde die Lage des Opfers regelmäßig nicht ausnutzen wird.

„Nur-Ja-heißt-Ja“-Grundsatz

Reaktionen der Literatur

Von Seiten der Literatur hagelte es von vielen Seiten Kritik für die erneute Reformierung des Sexualstrafrechts. So besteht zwar ein Konsens darüber, dass eine Stärkung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts zu begrüßen sei. Doch das neue Gesetz wird vielfach als „Schnellschuss“ bezeichnet, das allzu populistische Forderungen der Öffentlichkeit – etwa nach den Vorfällen in der Silvesternacht 2015 am Kölner Hauptbahnhof – ohne hinreichende Grundlage umsetze. Im Kern geht es häufig darum, dass das Gesetz die Realität von sexuellen Begegnungen, gerade und vor allem unter Einfluss von Alkohol, verkenne. Die Berufsverbände von Richtern, Anwälten und Kriminalbeamten erwarten, dass entsprechende Verfahren durch die Änderungen noch komplizierter werden – besonders vor dem Hintergrund, dass regelmäßig Aussage gegen Aussage stehen wird und es keine weiteren Indizien gibt. Auch eine Häufung von falschen Beschuldigungen wird teilweise vermutet.

Die Strafrechtsprofessorin Tatjana Hörnle bedauert, dass die Änderungen in großer Eile herbeigeführt wurden, hält die jetzige Fassung der großen Linie nach für überzeugend. Ihr Kollege Joachim Renzikowski hält § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB dagegen für problematisch. So würden selbst unsinnige Entscheidungen genügen, selbst wenn sie dem wohlverstandenen Interesse der betroffenen Person eindeutig zuwiderlaufen. Leicht beeinflussbare Personen könnten unschwer entsprechend manipuliert werden. Zudem bezeichnet er die Tatbestandsmerkmale des § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB als bloße „Gesetzesparaphrasen“.

Gesetz nicht mit Wirklichkeit sexueller Interaktion in Einklang zu bringen

Sexueller Übergriff: Urteile

Urteile, die einen Schuldspruch an den neuen § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB sowie an die Einschränkung aufgrund Alkohol oder Betäubungsmitteln knüpfen, gibt es bislang nicht. Damit hat die Neustrukturierung des Sexualstrafrechts, wie von vielen Experten erwartet, nicht zu einem Anstieg der Delikte in diesem Bereich geführt. Vielmehr sind die Ausführungen des Gesetzgebers oftmals nur theoretischer Natur, der Anwendungsbereich in der Praxis ist jedoch eher gering.