Leitsatz des Bearbeiters:
- Ein Beschuldigter, der via Webcam mit Kindern (= unter 14 Jahre) kommuniziert und dabei sexuelle Handlungen transportiert, macht sich nach § 176 Abs. 4 Nr. 1 Strafgesetzbuch (StGB) strafbar.
Zur Strafbarkeit von sexuellen Handlungen, die ein Kind mittels Webcam am seinem Bildschirm mitverfolgen kann, hat der Bundesgerichtshof (BGH) am 21. April 2009 folgendes richtungsweisendes Urteil erlassen (BGH – 1 StR 105/09 – LG München I):
Nach § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft, wer auf ein Kind durch Vorzeigen pornografischer Abbildungen oder Darstellungen, durch Abspielen von Tonträgern pornografischen Inhalts oder durch entsprechende Reden einwirkt.
Der Tatbestand des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB ist nach dem BGH auch dann erfüllt, wenn das Opfer die über das Internet übermittelten sexuellen Handlungen des Täters zeitgleich am Bildschirm mitverfolgt.
Dass sich der Beschuldigte und ein Kind bei der Tatbegehung nicht in unmittelbarer räumlicher Nähe zueinander befinden, sondern durch eine Liveübertragung miteinander über das Internet verbunden sind, steht der Verwirklichung des Tatbestandes des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB nicht grundsätzlich entgegen. Der Tatbestand ist nämlich auch dann erfüllt, wenn eine räumliche Distanz zwischen dem Täter und seinem konkreten Opfer im Wege einer simultanen Bildübertragung überwunden wird, sodass das Opfer die übermittelten sexuellen Handlungen des Täters zeitgleich am Bildschirm mitverfolgen kann (vgl. Hörnle in MK-StGB § 184f Rdn. 16).
Nach § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB sollen Kinder unter 14 Jahren vor einer Beeinträchtigung ihrer Gesamtentwicklung durch das Erleben von exhibitionistischen Handlungen geschützt werden, die vor ihnen vorgenommen werden (BTDrucks. VI/1552 S. 17). Um dem erheblichen Schuld- und Unrechtsgehalt eines sexuellen Missbrauchs von Kindern gerecht zu werden, hat der Gesetzgeber die Strafandrohung im Laufe der Jahre kontinuierlich heraufgesetzt. Waren exhibitionistische Handlungen vor Kindern in der bis 31. März 1998 geltenden Fassung noch mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bedroht, wurde diese Strafobergrenze durch das 6. StrRG vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 164) auf Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe erhöht. In der heute geltenden Fassung wurde, zurückgehend auf das Sexualdeliktsänderungsgestz vom 27. Dezember 2003 (BGBl I S. 1607), die Mindeststrafandrohung auf drei Monate Freiheitsstrafe heraufgesetzt. Die vom Gesetzgeber vorgenommenen Veränderungen, die zu einer deutlichen Erhöhung des Strafniveaus geführt haben, belegen somit, dass eine effektive und umfassende Regelung zum Schutz der ungestörten Entwicklung von Kindern getroffen werden sollte.
Der darin zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Wille macht deutlich, dass es nach dem Schutzzweck des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB nicht auf eine unmittelbare Nähe zwischen Täter und Opfer ankommen kann. Zwar ist die Strafbarkeit von sexuellen Handlungen „vor“ einem anderen gemäß § 184 g Nr. 2 StGB auf solche Handlungen beschränkt, die vor einem anderen vorgenommen werden, der den Vorgang wahrnimmt. Dies bedeutet aber nicht, dass sich Täter und Opfer bei der Tatbegehung zwangsläufig in unmittelbarer räumlicher Nähe zueinander befinden müssen, was bei typischen exhibitionistischen Handlungen, die in der Regel durch eine gewisse Distanz zwischen Täter und Betrachter gekennzeichnet sind, ohnehin selten vorkommen dürfte. Durch die in § 184 g Nr. 2 StGB verwendete Formulierung soll vielmehr klargestellt werden, dass für die Verwirklichung des Straftatbestandes nicht die räumliche Gegenwart des Opfers bei Vornahme der sexuellen Handlungen ausschlaggebend ist, sondern die unmittelbare Wahrnehmung des Opfers von dem äußeren Vorgang der sexuellen Handlung (BTDrucks. VI/3521 S. 37). Ohne diese Wahrnehmung, die nicht notwendig auf das Visuelle beschränkt sein muss, fehlt es an einer intellektuellen Einbeziehung des Kindes in die sexuelle Handlung und damit an einer vom Strafzweck erfassten Einwirkung auf das Kind (vgl. BTDrucks. VI/3521 S. 25 zu § 174 Abs. 2 StGB).
Dass es bei der Verwirklichung des Tatbestandes des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB maßgeblich auf die Wahrnehmung des Kindes ankommt und nicht auf eine unmittelbare räumliche Nähe zwischen Täter und Opfer, wird auch bei einem Vergleich mit den übrigen in § 176 Abs. 4 StGB enthaltenen Tatbestandsvarianten deutlich. Keine der in § 176 Abs. 4 Nr. 2 bis 4 StGB genannten sexualbezogenen Einwirkungen auf ein Kind erfordert eine unmittelbare räumliche Nähe zwischen Täter und Opfer. Selbst Tathandlungen, die wie in § 176 Abs. 4 Nr. 3 und 4 StGB von wesentlich geringerer Intensität sind, als die von § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB erfassten, und dennoch dieselbe Strafandrohung aufweisen, setzen eine unmittelbare räumliche Beziehung nicht voraus. Vielmehr stellen auch diese Varianten, die für die Tatbestandsverwirklichung ein Einwirken auf ein Kind mittels bloßer Gedankenäußerung, etwa durch Schriften (§ 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB) oder durch Vorzeigen pornografischer Abbildungen, durch Abspielen von Tonträgern pornografischen Inhalts oder durch Reden mit entsprechendem Inhalt (§ 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB), ausreichen lassen, wesentlich auf die Wahrnehmung solcher Gedankenäußerungen durch das Kind ab. Nichts anderes kann deshalb für die von § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB erfassten sexuellen Handlungen gelten, zumal der Gesetzgeber bei der Schaffung des Tatbestands am 23. November 1973 (BGBl I 1725) noch nicht mit der Möglichkeit der Liveübertragung sexueller Handlungen mittels Webcam und Internet rechnen konnte (vgl. Hörnle in MK-StGB § 184f Rdn. 15; vgl. insgesamt BGH, Urteil v. 21. April 2009 – 1 StR 105/09 – LG München I).