Die englische Bezeichnung ,,stealthing“ bedeutet frei übersetzt ,,heimliches Tun“ und meint im Kontext des Geschlechtsverkehrs das heimliche Abziehen des Kondoms durch den Mann, während die Partnerin bzw. der Partner zuvor nur in den geschützten Geschlechtsverkehr einwilligte. Es stellt sich die Frage, ob es eine Straftat darstellt, sofern das Kondom heimlich, also ohne Kenntnis oder Einwilligung der Frau, abgezogen wird.

Zu denken ist im Bereich des Sexualstrafrechts an die Norm des § 177 StGB, welche den freien Willen beim Geschlechtsverkehr bzw. bei sexuellen Handlungen aller Beteiligten schützt. Wird der freie Wille gebrochen und entgegen dem freien Willen sexuelle Handlungen vorgenommen, liegt ein sexueller Übergriff vor. Bei einer Zuhilfenahme von Gewalt wäre gemäß § 177 Abs. 5 StGB eine Vergewaltigung einschlägig, was eine erhöhte Freiheitsstrafe nach sich ziehen kann.

Fällt das heimliche Abziehen des Kondoms unter einen Straftatbestand?

Die Frage, ob das heimliche Abziehen des Kondoms strafbar ist, führt zu mehreren strafrechtlichen Problemfeldern, weswegen auch die Rechtsprechung, wie nachstehend aufgeführt wird, nicht einheitlich ist.

Im Strafrecht gibt es das sogenannte Analogieverbot, welches in Art. 103 Abs. II des Grundgesetzes kodifiziert ist. Demnach müssen Straftatbestände, damit sie jeder versteht, klar und eindeutig formuliert sein. Eine Ausdehnung nach Systematik oder Sinn und Zweck, wie sie oftmals im zivilrechtlichen Bereich möglich ist, kommt zulasten des Beschuldigten nicht in Betracht. Eine Ausdehnung würde in letzter Konsequenz dazu führen, dass Straftatbestände nach Belieben auf den konkreten Sachverhalt angepasst werden könnten.

Die Aufassung des Amstgerichts Kiel

Das Amtsgericht Kiel entschied 2020 daher, dass ein heimliches Abziehen des Kondoms während des Geschlechtsverkehrs nicht unter den Tatbestand des § 177 StGB zu subsumieren sei und sprach den Beschuldigten frei.

Der Tatbestand fordere deutlich, dass die sexuelle Handlung entgegen dem freien Willen des Geschädigten geschehen müsse, das Gericht sah jedoch den Geschlechtsverkehr, also die sexuelle Handlung als solche im beidseitigen Einverständnis. Einzig das Abstreifen, das „stealthing“, sei entgegen dem erkennbaren Willen der Frau erfolgt, welche einen ungeschützten Geschlechtsverkehr verweigerte. Ein solches Abstreifen sei jedoch keine sexuelle Handlung. Eine ausdehnende Analogie nach Sinn und Zweck des Gesetzgebers zulasten des Beschuldigten kam nicht in Betracht. Nach Ansicht des Amtsgerichtes Kiel müsste der Gesetzgeber zuvor den Wortlaut ändern (vgl. AG Kiel, Urteil v. 17. November 2020, Az.: 38 Ds 559 Js 11670/18). Das Amtsgericht Kiel war auch der Auffassung, dass eine gewaltsame Vergewaltigung nicht mit Stealthing gleichgesetzt werden dürfe und es am Gesetzgeber läge, einen eigenen Straftatbestand für das heimliche Abziehen eines Kondoms während des Geschlechtsverkehrs zu verfassen. Überdies sah das Amtsgericht die Einlassung des Beschuldigten als glaubhaft an, dass die Partnerin das Abstreifen des Kondoms wohl mitbekommen haben müsse, da es zu einer kurzen Pause gekommen sei.

Die Aufassungen des OLG Schleswig- Holsteins und des Kammergerichts Berlin

Dieser Rechtsauffassung trat das OLG Schleswig- Holstein mit Urteil vom 19.03.2021 entgegen und schloss sich im Ergebnis der Rechtsauffassung des Kammergerichtes Berlin an.

Das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein begründete sein Urteil, im Übrigen als Revisionsinstanz für vorgenannte AG Kiel-Entscheidung, mit der sogenannten List des Beschuldigten, heimlich gegen den Willen der Partnerin das Kondom abzuziehen. Sobald der Beschuldigte den bereits bei Beginn des Geschlechtsverkehrs gebildeten Willen, keinen ungeschützten Verkehr zu haben, unterläuft, ohne dass anderweitige Anzeichen der Partnerin erkennbar wären, kommt es einzig auf diesen bei Beginn gebildeten Willen an. Das OLG Schleswig-Holstein stützt sich also auf das bewusste und vorsätzliche Unterlaufen eines zuvor gebildeten Willens beim „stealthing“ (vgl. OLG Schleswig-Holstein, Urteil v. 19. März 2021, Az.: 2 OLG 4 Ss 13/21). Das OLG Schleswig-Holstein stellte fest, dass es entgegen der Auffassung des Amtsgerichtes Kiel auch auf die geäußerte Ablehnung eines ungeschützten Geschlechtsverkehrs ankäme und nicht lediglich auf die Einwilligung zum Geschlechtsverkehr per se. Es wäre auch mit dem Analogieverbot im Einklang zu bringen, in den Tatbestand des § 177 StGB eine Täuschung und nicht lediglich einen Willensbruch hineinzulesen. Das OLG Schleswig-Holstein hob die Umsetzung des ,,Nein- heißt- Nein“- Ansatzes durch die Bundesregierung in den letzten Jahren hervor, der mit der neuerlichen Reform des Sexualstrafrechts 2016 einherging. Für die Annahme eines sexuellen Übergriffs sei keine Nötigung oder eine Gewaltanwendung mehr notwendig, daher müsse auch das verbliebene Tatbestandsmerkmal des Willensbruchs entsprechend der gesetzgeberischen Intention ausgelegt werden.

Mit dieser Auffassung konform geht auch das Kammergericht Berlin, wobei es im Berliner Fall, anders als hier, zu einer Ejakulation kam (vgl. KG Berlin, Urteil vom 27. Juli 2021, Az.: (4) 161 Ss 48/20).

Fazit

Im Ergebnis sprachen beide höheren Gerichte von einer Manipulation des bereits geäußerten Willens, sobald das Kondom heimlich abgezogen wird. Dies rechtfertigt eine Bejahung dahingehend, Stealthing als sexuellen Übergriff gemäß § 177 Abs. I StGB strafbar erscheinen zu lassen.

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